Eine Schule des Sehens

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Wie leicht es doch fällt, gerade das Augenscheinliche zu übersehen. Eigentlich müsste es einen regelrecht anspringen, doch eine ganz spezielle, gesellschaftlich bedingte Form der Blindheit lässt das offen Sichtbare unsichtbar werden. Ein ideologischer Kartenspielertrick, auf den man Tag für Tag von neuem hereinfällt.

Einer, der eben diese Tricks fortwährend aufgedeckt hat und so das ganz offen Versteckte wieder sichtbar werden ließ, war der Filmemacher und Videokünstler, Drehbuchautor und Dozent Harun Farocki. Seine Arbeiten, die er bis in die späten 80er Jahre hinein noch fürs Kino, später dann vor allem für Museen, Galerien und Kunstfestivals produzierte, waren von Anfang an eine Schule des Sehens.

Der 1944 im damals sudetendeutschen Neutitschein, dem heutigen tschechischen Nový Jičín, als Sohn einer Deutschen und eines indischen Arztes geborene Farocki hat nie einfach nur Bilder produziert. Seine Essayfilme und seine Videoarbeiten, seine wenigen Spielfilme und seine Installationen befragen und durchleuchten die Bilder. Sie fordern den Betrachter heraus. Er soll ganz genau hinsehen, statt sich einfach nur seiner Schaulust hinzugeben. Das Denken hinter den Bildern wird transparent und mit ihm zugleich auch die Politik, die sie transportieren, und die Machtverhältnisse, die sie überhaupt erst hervorgebracht haben.

Das ist schon so in dem gerade einmal drei Minuten dauernden Wort- und Bildspiel Die Worte des Vorsitzenden, das Farocki 1967 in seiner kurzen Zeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie realisiert hat. Ausgehend von dem damaligen linken Schlagwort von den »Worten, die zu Waffen werden«, entwirft er eine Vision von einer Welt, in der dann auch die Waffen der Unterdrückten aus Papier sind, stumpf und unbrauchbar. Indem er die Parolen wörtlich nimmt und eins zu eins in Bilder verwandelt, offenbart er ihre Absurdität. Das Denken in Filmbildern erweist sich als präziser und zugleich auch wirkmächtiger als das Denken in Sprachbildern.

In Bildern denken, das könnte der Nenner sein, auf den sich Harun Farockis Werk, immerhin über hundert kürzere und längere Arbeiten, vielleicht bringen lässt. Die Klarheit jeder seiner Einstellungen, die immer auch Ausdruck eines ebenso klaren Gedankens sind, und die Präzision seiner Found-Footage-Montagen, in denen die Bilder der anderen auf eine ganz andere Weise zu sprechen beginnen, sind einzigartig. Natürlich drängt sich immer mal wieder ein Gedanke an Jean-Luc Godard oder auch an Chris Marker auf. Aber Farockis Arbeiten haben einen nur ihnen eigenen Rhythmus, der ebenso exakt wie frei ist. Dieser Farocki-Rhythmus, der die Bilder aus ihren gewohnten Kontexten löst und sie einem neuen Sehen öffnet, schwingt auch in den Filmen Christian Petzolds mit, an denen Farocki mal als Koautor, mal als dramaturgischer Berater beteiligt war.

Farockis Filme entziehen sich jeglicher Instrumentalisierung, selbst der durch ihren Schöpfer. In dem 1986 entstandenen Kurzfilm Schlagworte – Schlagbilder. Ein Gespräch mit Vilém Flusser analysieren der Filmemacher und der Philosoph eine Titelseite der »Bild«-Zeitung. Sie gehen der Wirkung nach, die der Satz des Textes und die Position der Fotos erzeugen, und dekonstruieren schließlich das Layout als ideologisches Konstrukt, das dem Leser eine gezielt verengte Sicht auf die Welt nahelegt. Doch Flusser belässt es nicht dabei. Er schlägt eine letzte gedankliche Volte und legt dem Publikum nahe, diesen Film genauso kritisch und analytisch zu betrachten wie die »Bild«-Zeitung.

Damit spricht Flusser ganz direkt aus, was letztlich für alle Arbeiten Farockis gilt. Sie sind Einladungen zur Reflexion, zum kritischen Denken und zum aktiven Sehen. Selbst der Agitpropfilm Nicht löschbares Feuer, den Farocki 1969, ein Jahr nachdem er aufgrund einer studentischen Protestaktion von der Berliner Filmakademie verwiesen worden war, gedreht hat, erschöpft sich nicht in seiner Anklage des US-amerikanischen Chemiekonzerns Dow Chemical, der das Napalm für den Krieg in Vietnam produziert hat. Dieses filmische Reenactment ist vor allem eine luzide Betrachtung über die Auswirkungen zersplitterter Arbeitsprozesse. Die konsequente Aufteilung der Arbeit in kleine Schritte und Teams befreit am Ende alle von jeglicher Verantwortung.

Immer wieder hat sich Harun Farocki mit den unterschiedlichsten Formen von Arbeit beschäftigt und sich so dem gewidmet, was das Kino in seiner nun fast schon 120-jährigen Geschichte mehr oder weniger ausgeblendet hat. Der Wirklichkeit des Publikums wird in den meisten Spielfilmen eine überhöhte Realität entgegengesetzt, in der die Arbeit keine Rolle spielt. Diese bewusste Verdrängung der Arbeitswelt, die auch eine Strategie des Unsichtbarmachens von (Macht)Verhältnissen ist, steht auch im Zentrum von Farockis 1995 entstandenem Found-Footage-Film Arbeiter verlassen die Fabrik. Ausgehend von La sortie de l’usine Lumière à Lyon (1895), dem wohl ältesten Film der Brüder Lumière, präsentiert Farocki eine Auswahl von Filmausschnitten, die Menschen vor und hinter den Fabriktoren zeigen. Eine der bemerkenswerten Erkenntnisse dieser eindrucksvollen Montagearbeit ist, dass es weitaus mehr Kinobilder von Gefängnis- als von Werkstoren gibt.

Mit seiner Ehefrau Antje Ehmann zusammen hat Farocki in zahlreichen Großstädten auf der ganzen Welt zeitgenössische Remakes des Films der Lumière-Brüder gedreht. Auch wenn das Kino es nicht wahrhaben will, immer noch verlassen Menschen überall Tag für Tag ihren Arbeitsplatz. Zehn dieser Filme sind nun zusammen mit dem Lumière-Original im Essener Museum Folkwang im Rahmen der Ruhrtriennale zu sehen. Es ist eine simple Installation in einem der lichtdurchfluteten Gänge des Museums. Elf nebeneinander angeordnete kleine Monitore zeigen Bilder, die sich ähneln und doch ganz verschieden sind. Jede Stadt und jeder Betrieb hat einen eigenen Charakter. Das Uniforme und das Individuelle sind in dieser Anordnung untrennbar miteinander verknüpft.

Eine zweite, auch im Folkwang-Museum zu sehende Installation ist Harun Farockis und Antje Ehmanns wohl ambitioniertestem Projekt gewidmet. Von 2011 an hat das Paar in 15 Städten Workshops für junge Filmemacher veranstaltet. Die Aufgabe der Teilnehmer war es, einen maximal zwei Minuten langen Kurzfilm zu drehen und dabei in einer Einstellung eine Arbeit zu dokumentieren. Insgesamt sind in dem Projekt »Eine Einstellung zur Arbeit« 450 Filme entstanden, die alle auf der Website des Großprojekts (www.eine-einstellung-zur-arbeit.net) veröffentlicht wurden. Im Rahmen der Essener Ausstellung sind nun erstmals in Deutschland 60 dieser Arbeiten, jeweils sechs aus zehn Städten, zu sehen.

Die zehn über den schwarzen Museumsraum verteilten Leinwände erwecken zunächst einmal einen beinahe labyrinthischen Eindruck. Überall flimmern Bilder und konkurrieren um die Aufmerksamkeit des Besuchers. Man muss sich seinen eigenen Weg bahnen durch dieses visuelle Konglomerat der Großstädte, zu dem neben Kairo und Tel Aviv auch Hanoi und Rio de Janeiro, neben Boston und Lodz auch Buenos Aires und Bangalore sowie Johannesburg und Hangzou gehören. Aber selbst wenn man sich auf eine Leinwand und einen Film konzentriert, nimmt man noch Bilder aus anderen Filmen wahr.

So entsteht eine Art Kommunikation zwischen den Filmen. Sie können sich ergänzen wie die Porträts von Straßenmusikern in Boston und Hangzou, oder sie kommentieren einander wie die unterschiedlichen Bilder von Abrissarbeiten in Kairo, wo Männer mit Vorschlaghämmern in einer Art Sisyphusarbeit auf verstärkte Betonträger einschlagen, und Buenos Aires, wo die gleiche Arbeit von einem modernen Baufahrzeug erledigt wird.

Am 30. Juli ist Harun Farocki überraschend verstorben. Die Ausstellung, die noch bis zum 28. September im Museum Folkwang zu sehen ist, hat dadurch noch einmal eine etwas andere Bedeutung bekommen. Sie ist nun eine Art von Vermächtnis und weckt durchaus die Hoffnung, dass zumindest einige junge Regisseure seinem Weg folgen werden.
Sascha Westphal

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