Echte Kunst spricht nicht

Künstlerdokumentationen
»Anselm – Das Rauschen der Zeit« (2023). © Road Movies

»Anselm – Das Rauschen der Zeit« (2023). © Road Movies

Ausstellungen sind seit Jahren regelrechte Popveranstaltungen. Und neben dem guten alten Biopic blüht im Kino die Sparte Künstlerdokumentation. Mit dem Anselm-Kiefer-Porträt von Wim Wenders erreicht sie einen vorläufigen Kulminationspunkt

Für die Vorweihnachtszeit ist wieder einmal ein Künstler-Biopic angekündigt, diesmal zu Edvard Munch, dem »Maler und Exzentriker, Begründer des Expressionismus«, ein »getriebener Geist« und überhaupt: eines jener Genies, die in alles umspannender Einsamkeit und Größe die bildende Kunst angeblich allein voranbringen.

Ein Missverständnis, das durch schwierige Auftraggeber und anstrengende Lieb- und Leidenschaften gern noch angeheizt wird. Das Rezept sah man oft bei europäischen Biografien der frühen Neuzeit und der Moderne bis 1933: Rembrandt, van Gogh, Picasso. Diese Viten kennen wir bestens auch in filmisch dramatisierter Form.

Doch für die Epoche, die mit dem politischen Kahlschlag und der Neuorganisation von fast allem nach dem Zweiten Weltkrieg begann, greifen solche Erklärungen kaum noch: schon deshalb, weil Maler, Bildhauer und Architekten nicht länger als Bannerträger neuer Auffassungen fungierten, die Welt zu sehen und zu interpretieren. Die Zeiten der Fanfarenträger und Herolde, der Avantgarde – im wörtlichen Sinn: hellwach »vor der Truppe herreitend« – sie waren vorbei.  

Insbesondere Maler und Plastiker aus Deutschland hatten nun genug damit zu tun, ihr Verhältnis zur Gesellschaft, zum demokratischen System darzulegen, wenn sie denn nicht in die Abstraktion, ins Informel flüchteten. Diese Aufgabe stellt sich auch ihren filmischen Chronisten, also Regisseurinnen und Regisseuren, die sich darauf einlassen, einem Kinopublikum das individuelle Werk bildender Künstler nach 1945 zu vermitteln. Mancher Dokumentarfilm ist daher spannender als ein ausgeschmücktes Künstlerleben; die Gattung wird den Ambivalenzen der Moderne und allem, was nach ihr kam, gerechter.

»Beuys« (2017). © Piffl Medien

Joseph Beuys ist das beste Beispiel. Andres Veiel ist mit seinem Film »Beuys« von 2017 sehr nah dran am Mann – und am individuellen Mythos. Dem Künstler wird sein Erweckungserlebnis »zur Kunst hin« abgenommen, die märchenhafte Bergung durch Tataren, die den Kriegsverwundeten gerettet hätten. Dieser Anfang wirft ein bezeichnendes Licht auf Beuys'sche Selbststilisierungen auch in späteren Zusammenhängen. »Ein Meisterspiel« (1998) spielte hingegen Lutz Dammbeck mit dem Maler, der andere Maler mit Absicht übermalte, dem Österreicher Arnulf Rainer. Zuerst ­naiv fragend, dann hartnäckig nachforschend gelang hier die Offenlegung eines Kunstbetrugs und austrofaschistischer Verschwörungen.      

Ganz nah, die reinen Mühen des Kunstmachens spiegelnd, geriet Corinna Belz' Doku »Gerhard Richter Painting« (2011). Man sieht vor allem die ernsthafte, schweißtreibende Arbeit, die Richter unternimmt. Den großen historischen Kontext schob Florian Henckel von Donnersmarck in seiner Richter-Fiktion »Werk ohne Autor« (2018) nach. Insbesondere aus dieser Annäherung lernt man, dass immer auch die Intention des Chronisten zählt: im besten Fall ein schlauer Zöllner, um es mit der Parabel Bert Brechts zu sagen, der dem Philosophen abverlangt, seine Erkenntnisse auch in nachvollziehbarer Weise weiterzugeben.  

Echte Kunst »spricht« nicht. Sie wird zum Sprechen gebracht: Besonders eingängig dann, wenn die Aufgabe des Zeigens, Berichtens (und damit auch In-eine-Richtung-Lenkens) vom Künstler selbst übernommen wird. Auch dafür gibt es gelungene Beispiele, in jüngerer Zeit etwa »The Artist Is Present« (2012). Marina Abramovic nahm sich für den Film einen ausführenden Regisseur. Mit den monatelangen Sessions im MoMA, in denen sich die Künstlerin selbst als lebendes Objekt den Blicken des Publikums aussetzte, machte sie klar, dass Kunst auch die Lehren der Popmoderne gewinnbringend einsetzen kann. Ist man den Medien erst einmal ausgesetzt, ist vor allem Performance gefragt. Wird die zum Konzept erhoben, fällt neuer Glanz auch auf die leicht angestaubte Idee des Museums – die Schau war ein Event, die Menschen standen Schlange.      

Nun also Anselm Kiefer, gesehen von niemand anderem als seinem »Zöllner« Wim Wenders: zweifellos ein Gipfeltreffen der besonderen Art. Wenders sucht den Künstler auf einem Areal von 40 Hektar auf, mit ­Containertürmen auf Brachen, die an ein San Gimignano im deutsch-deutschen Todesstreifen erinnern. Bewohnt wird es von gegipsten Reifröcken, die Kiefer mit Objekten statt des Kopfes versieht, seine »Frauen der Geschichte und des Mythos« (sie beginnen alsbald wispernd zu kommentieren). Kiefer selbst sieht man zuerst beiläufig, dann in der Totalen, ohne sichtbare Familie, unterstützt immerhin von einem Dutzend Helfern, die mit schwerem technischem Gerät zur Hand gehen.

Kein deutscher Künstler hatte je ein solches »Reich« zu seiner Verfügung, zumindest nicht seit Arno Breker, der auf einem Rittergut im Oderbruch seine flankierende Arbeit für den Totalitarismus betrieb. Totalitaristisch ist die Kiefer'sche Passion auch, aber es ist die Hingabe ganz und allein an die Ästhetik, die der 1945 nahe der Donauquelle geborene Künstler betreibt, der seit 1992 in Frankreich lebt. Wenders' Annäherung macht auf Anhieb deutlich, dass es nicht um ein Atelier im herkömmlichen Sinn geht, sondern um ein im Grunde extraterritoriales Konzept. Für Kiefer ist das Gelände einer ehemaligen Seidenspinnerei Werkstatt und Fabrik, Bibliothek, Land-Art und Installation im Kleinen wie im Ganzen. Dazu ein riesiges Archiv, in dem er nichts weniger als die »Haut der Erde« sammelt: Fotografien, gesammelt in riesigen steinernen Folianten, die nur er einsieht. Materialbesessenheit ist auch ein Stichwort, das sich hier aufdrängt.

Was aus Barjac abfiel (der Künstler hat den Ort mittlerweile verlassen und arbeitet jetzt in der Nähe von Paris) und in Museen und Galerien aufschlug, ist daher nur der verwertbare Ausfluss einer umfassenden Idee von der Beschaffenheit der Welt. Kiefer selbst wähnt sich klein: eine kosmische ­Monade, ein Lidschlag in der Ewigkeit. Er lebt ganz im Jetzt und, als Künstlerstar, irgendwie für sich allein. Seine Ateliers wurden allerdings, wie Wenders in teleskopartigen Re-Stagings zeigt, faktisch immer größer.

So wie der Ruhm. Der setzte, nach zahlreichen binnendeutschen Kontroversen um Kiefers Bezugnahmen auf das Thema Deutschland, Anfang der 80er Jahre mit der Einladung zur Biennale in Venedig ein. Am Ende der 80er stand eine Tournee durch die USA mit Stationen in den namhaftesten Museen des Landes, in Chicago, Philadelphia, Los Angeles und New York. Im Katalog der Schau wurde die Kardinalfrage gestellt, die Kiefer seither begleitet: »On Being German and an Artist« – wie kann das überhaupt gehen? Nicht jedenfalls indem man die ikonographischen Verdichtungen, wie sie Beischriften und Objekttitel bei Kiefer scheinbar deutlich nahelegen, von der Gesamterscheinung der Kunst und ihrer gesellschaftlichen Funktion isoliert. Die Debatten, die damit losgetreten wurden, beschäftigten dann allerdings eher eine intellektuelle Elite.

Kiefer selbst gab seinen Kritikern immerhin reichlich Futter, indem er mythische Erzählungen vielerlei Herkunft bemühte und so nicht zuletzt selbst auf den Schultern von Riesen zu stehen kam (bei Wenders stehen dafür Paul Celan und Ingeborg Bachmann, mit expressiven Auftritten). Für ein nationales Deutschland steht das alles keinesfalls, auch nicht ex negativo. Vielleicht braucht es ein wenig Abstand, um die Essenz klarer zu sehen, Abstand, wie ihn der Franzose Daniel Arasse aufbrachte, in der bis dato feinsten monografischen Analyse des Werks in Buchform (2001).

Kiefer selbst bleibt in den Erklärungen seiner Absichten eher deutungsresistent. Das Werk soll sprechen. Beipackzettel können Marken auch entzaubern. Dafür beherrscht Kiefer die Kunst der Andeutung: Er legt Assoziationen nahe, die allein dem Material zu entnehmen sind. Wenn er mit dem Flammenwerfer Stroh verbrennt, das wiederum als Bildobjekt »verbranntes Stroh« verbleibt, mag man Vergeltungsaktionen an der Zivilbevölkerung in echten Kriegen assoziieren. Die überwachsenen und gleichsam mumifizierten Kriegsflieger, die einst begeisterten, sind aber seltsam museal geworden. Die provozierende Geste, mit der Kiefer um 1970 begann, hat nachgelassen: Seit langem ist er nun auch einer der kapitalträchtigsten, global gehandelten Kunstlieferanten.

Solche Kunst ist wichtig schon deshalb, weil sie den rebellischen Gestus des Genies, das erst einmal unverstanden bleibt, zum demokratischen Kanon hinzuaddiert. Am Ende stützt sie das System: Wenn sie denn im Museum ankommt, das gerade in vermeintlich kritischen Zeiten wie diesen wieder enormen Zulauf hat.  

Wenn Kiefer noch einmal, von Wenders Kamera begleitet, nach Venedig reist, dann nur um sich und seine Arbeit an Jacopo Tintoretto zu messen, einem anderen im megalomanen Sinn »in der Kunst Eingeschlossenen« (J. P. Sartre). Von seinem Wesen her ist Anselm Kiefer Solipsist. »Ich arbeite nur, damit ich überrascht werde«, hat er in einem Interview gesagt. »Wenn das Spiel fest wird, wird es Ritus.« Auch der Künstler ist gespannt darauf, was die Kunst mit ihm immer wieder neu und anders werden lässt.

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