Interview: Catherine Breillat über »Im letzten Sommer«

Catherine Breillat. Foto: Filmmuseum Wien/Mercan Suembueltepe

Catherine Breillat (2020). Foto: Filmmuseum Wien/Mercan Suembueltepe

Madame Breillat, es kommt nicht so oft vor, dass ein europäischer Film in einem anderen europäischen Land neu verfilmt wird. Wie ist »Im letzten Sommer« entstanden?

Der Produzent Ben Said Ben hat mich angesprochen. Ich war damals in meinem Haus in Portugal und hatte Probleme mit der Finanzierung eines neuen Projektes. Damals war der dänische Film »Königin« drei Jahre alt, Said sagte, er hätte die Rechte an dem Drehbuch gekauft und meinte, das könne ich besser machen. Daraufhin habe ich mir den Film, der ja sehr erfolgreich war und für Dänemark ins 'Oscar'-Rennen ging, angeschaut. Dabei hatte ich ein bisschen die Befürchtung, dass mir dass Projekt wegen der drastischen Sexszenen vorgeschlagen wurde. Ich habe ihm dann direkt gesagt: »Das will ich nicht machen, Das habe ich schon gemacht, das habe  ich früher gemacht, das habe ich anders gemacht, das muss für mich anders motiviert sein.« Was mir an dem Film aber sofort gefallen hat, ist die Anlage der gesamten Handlung, die auf Lüge und Verleugnung beruht. Das sind die beiden großen Triebfedern des Films und das hat mich sofort interessiert – und mir war sofort klar, wie ich mir diesen Film aneignen kann. Ich habe viele Dinge übernommen von »Königin«, teilweise Dialoge, ich habe den Film aber stärker in die Emotion hereingezogen, auch Dialoge weitergeführt. Und es war eben klar: keine harten Sexszenen und es müsste ein anderer Jugendlicher sein von der Anlage. Eigentlich betrachte ich meinen Film nicht als ein Remake. Natürlich ist das Grundgerüst dasselbe, aber Léa Drucker ist nicht Trine Dyrholm. Der Darsteller, der eine Rolle verkörpert, ist das, was wir auf der Leinwand sehen. Ich sage immer, wenn man die richtige Besetzung gefunden hat, dann sind bei einem Film die Würfel gefallen, dann entscheidet sich bei einem Film, wie er herüberkommt. 

Während in »Königin« das Begehren von der Frau ausgeht, ist es hier umgekehrt. Ist Anne eine Person, die ihr Begehren verleugnet? 

In gewisser Weise schon, aber sie gibt ja der Verführung, die hier von dem Jungen ausgeht, nach. Sie spricht darauf an. Dessen muss sie sich vielleicht unterbewusst bewusst gewesen sein. Genauso    begeht sie einen Fehler, das ist ihr klar, sie versucht, die Beziehung abzubrechen, aber sie ist dazu nicht wirklich in der Lage. Und die Szene, wenn der junge Mann zu ihr ins Büro kommt, sie an ihrem Arbeitsplatz besucht, das ist eigentlich eine Liebesszene, die sich da abspielt. Se versucht hart zu sein, die harte Anwältin herauszukehren, aber man sieht ja, sie hat Tränen in den Augen. Das ist sehr emotional und eigentlich geht es um den Kampf der beiden, um ihre Gefühle füreinander. Im Grunde ist Anne Opfer des Jugendlichen.

Mir hat der Schluss sehr gut gefallen, er hat eine gewisse Offenheit. Er legt nahe, dass sie eigentlich eine Beichte ablegen will, ihr Ehemann, der ahnt, was passiert ist, das aber nicht hören will. Heißt das nicht, dass diese Ehe zu einem Teil nur über Lügen und Verleugnungen funktioniert?

Im Gegenteil! Lügen und Verleugnen wird die Ehe weiterführen, aber sie basierte vorher nicht darauf. Der Film zeigt zu Anfang, dass das eine sehr liebevolle und intime Ehe ist. Die beiden sind schon lange verheiratet, trotzdem haben sie noch sehr viel Liebe und Zärtlichkeit füreinander, sie schlafen miteinander. Natürlich nicht so, wie man mit einer neuen Liebe schläft, aber es ist eine tiefe Verbindung. Die eheliche Liebe ist sehr tief und stark und trägt die beiden, Am Ende muss dem Mann aber das Recht zugestanden werden, sich selber belügen zu dürfen. Er muss das nicht hören, was sie ihm sagen will. Er möchte die Liebe und das, was sie verbindet, halten. Dieser Spruch 'Man muss sich alles sagen' und alles rauslassen – wozu? Dann fliegt überall der Eiter herum und das will keiner. Man muss es unter der Decke lassen und sie bewahren sich eine Liebe, die klar ist. Sie hat eine Affäre gehabt, hat in dieser Affäre Dinge begangen, Dummheiten gemacht, aber dass sie zurückkehrt, ist eine wahre, tiefe Verbindung. Das Ende ist ein Spiegel für das Publikum: je nachdem, welche eigenen Wünsche und Vorstellungen das Publikum hat, kann es sich sein Ende aussuchen. 

Hat einer der beiden Darsteller Sie bei dieser Szene nach einer Interpretation gefragt, um für sich selber eine Klarheit zu haben? Oder haben sie gesagt, wir spielen es so ambivalent, dass es alles zulässt?

Es wurde in diesem Zwischenbereich gespielt. Ich bin jemand, der normalerweise immer sehr dafür kämpft, dass bei den Aufnahmen die Darsteller immer gut ausgeleuchtet sind, selbst in der Nacht. Aber bei dieser Schlussszene und bei der Schwarzblende (die ja heutzutage normalerweise im Labor gemacht wird) wollte ich - wenn das Schwarze sich über sie legt – das Funkeln des Eherings zeigen. Das sieht man in der Dunkelheit dieser schönen handgemachten Abblende noch. Beim Schreiben improvisiere ich gar nicht, aber ich habe das Gefühl, wenn ich drehe, erfinde ich ständig dazu. Erst da entstehen die richtigen Einstellungen.

Das gilt auch für die Szene mit dem Ehering?

Absolut! Und das ist, was es so amüsant macht beim Drehen, das ist das, was ich daran so liebe. Da ist der Produzent dann völlig baff, wenn er die Muster sieht und meint: 'Da wäre ich ja gar nicht drauf gekommen!' In der Regel komme ich in der Nacht vorher darauf, das ist quasi etwas, was beim Herstellen entstehen kann. In der Regel erfinde ich in der Nacht zuvor, das sind vor allem Szenen, die mich traumatisieren. Nicht nur die Darsteller werden traumatisiert, sondern ich auch. Das sind in der Regel Liebesszenen. Da bin ich die erste, die in der Nacht nicht schlafen kann und denkt, 'Oh Gott, Oh Gott, wie werden wir das machen?!' Zum Beispiel im Film die erste Szene mit Olivier Raboutin, dem Darsteller des Ehemannes: dass er derjenige sein wird, der sich auszieht, diese Idee ist mir erst in der Nacht zuvor gekommen. Alle waren völlig baff, aber das ist ein anderer Ansatz, wie man damit umgeht und was einem dann einfällt. Es stand auch nicht im Drehbuch, dass die Ehefrau beim Liebesakt sprechen wird. Auch das ist erst beim Dreh hinzugekommen. Das ist so amüsant und spannend beim Filmemachen, denn schließlich stellen wir keine verfilmten Drehbücher her, wir drehen Filme. Der Rhythmus entsteht erst dann, wird erst spürbar beim Dreh – sonst ist es eine Fleißarbeit und das ist langweilig. Ich sage meinen Darstellern auch immer: 'Frag Dich vor jedem Satz, den Du aussprichst: Sagst Du die Wahrheit, belügst Du Dich selbst oder sprichst Du eine Lüge aus? Wenn ich bei einer Szene bemerke, es ist langweilig, dann sage ich: sprich es anders. Diese drei Möglichkeiten verändern alles, sie halten es lebendig. In all meinen Filmen versuche ich, Nuancen einzubringen, sie verleihen dem Ganzen Tiefe.

Gibt es trotzdem vor diesen Überlegungen unmittelbar vor dem Dreh so etwas wie generelle Überlegungen vorab, also zum Beispiel: wie filmt man die Sexszenen? Hier fiel mir auf, bei der ersten Sexszene zwischen der Ehefrau und dem Stiefsohn bleibt de Kamera ungewöhnlich lange auf ihrem Gesicht. Ist das auch etwas, was erst in der Nacht zuvor entstand? Das wird ja heute mehr problematisiert – hatten Sie bei diesem Film auch einen Intimitätscoach dabei?

Bloß keinen Intimitätscoach, nie! Was bilden die sich ein?! Das sind selbstproklamierte Heuchler. Es gibt kein Diplom, es gibt keine Ausbildung dafür, das sind Leute, die keine Ahnung vom Filmemachen haben, die keine Regisseure sind, die inszenieren nichts, die drängen sich auf, das ist furchtbar, ganz furchtbar! Ich bin Regisseurin und ich vergewaltige ja nicht die Intimität meiner Darsteller. Ich brauche keinen Intimitätskoordinator, denn darum geht es mir ja gar nicht, es geht ja um Gefühle, die ich darstelle. Sexszenen, Liebesszenen, die probe ich alle durch mit meinen eigenen Bewegungen. Die Bewegungen, wie es gemacht werden soll, das probe ich durch mit meiner Assistentin, die ist 1,80 m groß, die kann die Rolle der Männer spielen. Und erst, wenn wir unsere Bewegungen fertig haben, so wie wir sie in etwa haben wollen, dann üben wir es in Bezug auf die Kamera. Das ist eine Choreografie, die entwickelt wird und das müssen die Darsteller geradezu auswendig lernen. Léa Drucker hatte vor der ersten großen Liebesszene eher etwas Angst und sie bat mich, ob wir das ganz schnell drehen könnten. Ich erwiderte: Nein, tut mir leid, das geht nur langsam, weil Du erst alles auswendig lernen musst, die ganze Choreografie. Dann haben wir das geübt und bei der Szene war ihre Brust zu sehen, was ich aber nicht wollte. Dann sind wir die Szene angegangen wie ein Maler, der eine Choreografie hat. Also mussten wir es dann wieder ganz anders drehen, sie mussten im Film einige ganz unnatürliche Stellungen einnehmen, die Darsteller mussten das aber so herüberbringen als wären es ganz natürliche Stellungen im Liebesspiel. Das Ganze ist sehr aufwendig, dauert auch sehr lange, dazu trugen die natürlich Slips und immer, wenn diese Slips ins Bild kamen, musste man sich natürlich wieder etwas neues ausdenken. Also sehr lang und sehr ausführlich, aber das wichtigste ist: ich halte immer auf die Gesichter, denn mir geht es um die Emotionen, die ich abbilde. Für die Intimitätskoordinatoren dreht sich alles um die Geschlechtsorgane – die interessieren mich gar nicht. Mir geht es um die Seele der Figuren – und die bildet sich im Gesicht ab. Das sind Heuchler, die eine völlig falsche Auffassung haben, die uns Regisseuren reinreden wollen, wo sie gar keinen bildlichen, keinen Gestaltungswillen, keine Ahnung haben. Und was das Schwierige an der ganzen Sache ist: der Sex wird gespielt, der ist simuliert, das ist eigentlich sehr keusch. Aber die Gefühle, die sich im Gesicht abspielen, die sind unkeusch, das muss echt sein. Und das ist die Schwierigkeit bei der Darstellung von überzeugenden Liebesszenen. Ich lasse mir da von einem Intimitätskoordinator nicht dreinreden. Tatsache ist: jeder Darsteller spielt mit seinem Körper, das ist eine intime Angelegenheit, Kino ist ein Menschenfresser.

Eine letzte Frage: Sie sind eine Pionieren der Darstellung weiblicher Sexualität im Film, mich würde interessieren, sind Ihre alten Filme heute in Frankreich präsent? Wird darauf Bezug genommen, wenn  heute dieses Thema debattiert wird? Gibt es auch eine Neubewertung der Filme, von denen ja viele bei ihrer Premiere skandalisiert wurden?

Ja, in der »New York Times« wurde in einem großen Text vor drei Jahren darauf Bezug genommen. Und ja, man bespricht sie anders. Alle meine Filme haben gegen eine Zensur kämpfen müssen und ich habe es immer geschafft, sie gegen eine Zensur zu verteidigen. Criterion wird alle meine Filme veröffentlichen, auch in den skandinavischen Ländern wird eine Gesamtedition geben. Dafür muss ich sie aber erst restaurieren. Vom ersten Film an war es mir immer wichtig, dass die Frisuren nicht aus der Mode kommen. Ich mache auch die Kostüme und die Frisuren, immer habe ich darauf geachtet, dass das nicht zu hip ist, weil es dann zu schnell unmodern wird. Man muss sich da bei der Malerei Inspiration suchen: auf großen Gemälden sieht man, dass die Frisuren der Figuren zeitlos sind. Ich versuche, immer so zeitlos wie möglich, immer so einfach wie möglich zu sein. Alles, was modern ist, wird unmodern, aber unsere Gefühle bleiben in allen Epochen gleich und das darf nicht durch ein unmodern werdendes Äußeres belastet werden.

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