goEast 2018

Die Kuh, die fliegt
PreisträgerInnen des goEast Filmfestival 2018. Foto: Peter R. Fischer

PreisträgerInnen des goEast Filmfestival 2018. Foto: Peter R. Fischer

Wieder ein breites Spektrum: goEast, das Wiesbadener Festival des mittel- und osteuropäischen Films, zeigte Ende April Kinoperlen aus Osteuropa

Melancholisch, schwermütig und mit leisen Mollakkorden grundiert: So könnte man das faszinierende Spektrum der Wettbewerbsfilme auf dem Wiesbadener goEast-Festival beschreiben. Hinter der düsteren Patina verbirgt sich allerdings ein breites Spektrum an Themen und avancierten Ausdrucksformen. Die Verblüffung über diese kinematographischen Schätze lässt sich nicht besser beschreiben als mit dem überraschten Blick jener Kuh, von der Rainer Sarnet in seinem Erwachsenenmärchen »November« erzählt. In einer der ersten Szenen beobachtet das im Stall angebundene Vieh mit bangem Blick, wie sich ihm ein seltsames Geschöpf bedrohlich nähert. Das undefinierbare Wesen, eine Mischung aus Bumerang, Sensenmann und animierter Tinguely-Skulptur, umschlingt das Tier mit einer Kette – und lässt daraufhin buchstäblich die Kuh fliegen.

Allein schon dieses skurril-surreale Intro, das die Zuschauer mit abheben lässt, hätte den Preis für den originellsten Filmbeginn verdient. Mit hypnotischen Bildern entführt der estnische Regisseur in eine Welt, in der der Übergang zwischen Leben und Tod, Realität und Fantasie fließend ist. Nach einem Roman des estnischen Schriftstellers Andrus Kivirähk erzählt Sarnet eine Romeo-und-Julia-Variation, die irgendwann im 19. Jahrhundert angesiedelt ist. Liina, ein Dorfmädchen mit einer besonderen Beziehung zu Wölfen, verliebt sich in den Bauernsohn Hans. Dieser erwidert ihre Zuneigung, verliert sein Herz aber dann an eine mondsüchtige deutsche Baronin. Am Ende dieses schwarzhumorigen Melodrams begegnet sich das Paar als Tote, die in zwei aufeinander zufahrenden Leichenwagen liegen – einer schwarz, der andere weiß. Der im positiven Sinne filmverrückte Sarnet inszeniert diesen Fiebertraum in erlesenen, durchkomponierten Schwarz-Weiß-Bildern. Die Tableaus sehen so aus, als hätte Andrei Tarkowski genau die richtige Dosis LSD geschluckt. Zu Recht verlieh die fünfköpfige Jury unter Vorsitz von Ildikó Enyedi den Hauptpreis, die Goldene Lilie, an diesen außergewöhnlichen Film, der schmales Budget mit Fantasie mehr als nur kompensiert.

Der Gegensatz zu der beunruhigenden Dokumentation »A Woman Captured«, ausgezeichnet mit dem Preis für die beste Regie, könnte kaum größer sein. Mit ihrer Langzeitbeobachtung, die später auch den Publikumspreis auf dem Internationalen Frauenfilmfestival in Köln gewann, schildert die ungarische Independentregisseurin Bernadett Tuza-Ritter das beklemmende Schicksal einer etwa 50-jährigen Frau. Nach einer Acht-Stunden-Schicht in der Fabrik lässt sie sich seit zwölf Jahren als Haussklavin ausbeuten. Warum sie das tut, wird leider nicht so ganz klar. Formaler Ausdruck ihres Gefängnisses ist das tunnelblickartige Sichtfeld des Films, der, als Gegenleistung für die Dreherlaubnis, die Gebieterin nicht im Bild zeigt. Die Komplizenschaft zwischen der Regisseurin und ihrer psychisch labilen Protagonistin, die, motiviert durch die Dreharbeiten, den Weg in die Freiheit findet, wirft Fragen auf.

Neben diesen beiden Preisträgern verblüffte das 17 Filme umfassende Wettbewerbsprogramm durch eine erstaunliche Fülle an dokumentarischen und erzählerischen Formen. Neben »Aurora Borealis«, dem neuen Film der Ungarin Márta Mészáros über zwei Frauen, die im sowjetisch besetzten Wien nach dem Zweiten Weltkrieg von russischen Soldaten schwanger werden, einmal ungewollt und einmal aus Liebe, überzeugte vor allem Bohdan Slámas tschechischer Film »Die Eisschwimmerin«. Die humorvoll-melancholische Liebesgeschichte einer alternden Witwe, die in die Kälte eines winterlichen Flusses eintaucht und dabei menschliche Wärme findet, erhielt den Preis der internationalen Filmkritik FIPRESCI.

Mit dem Preis des Auswärtigen Amtes für Kulturelle Vielfalt wurde »Die andere Seite von allem« ausgezeichnet. Aus der Sicht ihrer Mutter, der Oppositionspolitikerin Srbijanka Turajlić, zeichnet Mila Turajlićs serbischer Dokumentarfilm die Geschichte Jugoslawiens nach, von der Gründung über den Bürgerkrieg bis zur Gegenwart – und das mit ungemein atmosphärischen Bildern.

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