Kritik zu Past Lives – In einem anderen Leben

© Studiocanal

2023
Original-Titel: 
Past Lives
Filmstart in Deutschland: 
17.08.2023
L: 
106 Min
FSK: 
Ohne Angabe

In ihrem sensiblen Kinodebüt erzählt Celine Song von einer Frau und ihrem besten Kindheitsfreund, die sich nach Jahrzehnten wiederbegegnen

Bewertung: 4
Leserbewertung
4.6
4.6 (Stimmen: 5)

»Past Lives«, das Kinodebüt der südkoreanisch-kanadischen Dramatikerin Celine Song, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Als Drama, das in einer schlicht anmutenden Geschichte existenzielle Themen aufspürt; als Film über große Gefühle, der ganz leise, fast unscheinbar daherkommt; und als kluge Reflexion über Identität, Migration und das Verhältnis von Spiritualität und Weltlichkeit.

Im Mittelpunkt steht Nora, die aus Südkorea stammt und als 12-Jährige mit ihren Eltern nach Kanada zog. In Korea hieß sie Na Young und hatte einen besten Freund namens Hae Sung. Doch mit ihrer Auswanderung bricht der Kontakt ab. Zwölf Jahre später. Nora lebt inzwischen als Theaterautorin in New York. Aus einer Laune heraus sucht und findet sie ihren alten Freund auf Facebook. Es stellt sich heraus, dass er schon länger nach ihr forschte, aufgrund ihrer Namensänderung ohne Erfolg. Bereits in diesem beiläufigen Detail, mit der Verwestlichung des eigenen Namens und dem »Überschreiben« der ursprünglichen Identität, steckt eine eigene Geschichte über Migration und Assimilation. Die etwas unrealistische Situation, dass es Hae Sung über Eltern oder Freunde nie gelungen sein soll, Nora zu finden, überspielt Celine Song mit souveräner Nonchalance und einem Pochen auf schicksalhafte Fügungen. Vielleicht hilft als Zuschauer auch das Wissen, dass die Geschichte autobiografische Züge trägt.

Jedenfalls entwickelt sich zwischen den beiden über regelmäßige Skype-Gespräche, denen aufgrund der Zeitverschiebung immer auch ein nächtlicher Zauber anhaftet, erneut eine vertrauensvolle Beziehung. Bis Nora den Kontakt unvermittelt abbricht, als fürchte sie, dass die Vergangenheit ihre Zukunft beeinträchtigen könnte. Weitere zwölf Jahre vergehen. Nora ist inzwischen glücklich mit dem Amerikaner Arthur verheiratet, auch er ein Autor. Der Ingenieur Hae Sung lebt ohne feste Bindung in Seoul. Nun kündigt er an, für einen Besuch nach New York zu kommen. 

Dieser längste Abschnitt des Films, der mit Hae Sungs Ankunft ganz beiläufig auch zu einem fein ziselierten New-York-Film wird, bildet das berührende Herzstück der Geschichte. Wiederholt ist vom spirituellen Konzept des »In-Yun« die Rede, laut dem die gegenwärtige Beziehung zweier Menschen vom Kontakt in ihren früheren Leben geprägt ist. Noras früheres Leben liegt natürlich in Korea; ihr gegenwärtiges Leben, ihre über Jahrzehnte aufgebaute amerikanische Identität, wird durch das Treffen mit Hae Sung erheblich ins Wanken gebracht. In einer der besten Szenen erzählt sie ihrem Mann amüsiert-verwirrt, wie sehr sie sich im Kontakt mit Hae Sung wieder als Koreanerin fühlt. 

In wenigen Sätzen wird hier ein universelles Dilemma der Migrationserfahrung auf den Punkt gebracht. Arthur entgegnet, dass Nora auch im Schlaf nur koreanisch spricht – ihre Träume, ihr tiefstes Inneres, könnte man sagen, bleiben für ihn unverständlich. Doch Celine Songs Weltsicht ist zu humanistisch, um Arthur zu einem Hindernis auf dem Weg zum Liebesglück der Kindheitsfreunde zu degradieren. Mit nüchterner Klarheit hinterfragt Arthur seine eigene, undankbare Situation. Gegen das In-Yun scheint er machtlos, und seine stille Hilflosigkeit angesichts des drohenden Entgleitens seiner Frau gehört zu den berührendsten Momenten des Films, dessen Titel »Past Lives« eine melancholische Mehrdeutigkeit gewinnt. Hat Nora früher die richtigen Wege gewählt? Hängt Hae Sung womöglich zu sehr der Vergangenheit nach?

Ohne Sentimentalität oder Nostalgie erzählt Celine Song von Vergangenem und Gegenwärtigem, von alten Beziehungen und neuen Perspektiven. Nicht zuletzt geht es auch um den Widerstreit von Vernunft und Verlangen. Die über allem schwebende Frage, ob Nora ihre sorgsam aufgebaute Sicherheit für ihre Sehnsucht riskieren soll, löst Song in einer Szene auf, in der sich Noras sonst so streng kontrollierten Emotionen unerwartet Bahn brechen. Es bricht einem das Herz.

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