Kritik zu Ein Festtag

© Tobis Film

2021
Original-Titel: 
Mothering Sunday
Filmstart in Deutschland: 
23.12.2021
L: 
110 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Sittenbild, Frauenporträt und eine hinreißende Sinnlichkeit: In Eva Hussons drittem Spielfilm, der Adaption eines Romans von Graham Swift, kommt auf elegante Art ziemlich viel zusammen

Bewertung: 4
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»Du hast keinerlei Familie und damit absolut nichts zu verlieren,« sagt Lady Niven zu ihrem Hausmädchen Jane: »Das ist ein Geschenk, das du zu nutzen lernen musst!«. Sie spricht aus tiefsitzender Verbitterung und schneidendem Schmerz, die Olivia Colman in dieser Rolle aus jeder Pore, mit jeder Bewegung und jeder Bemerkung ausdünstet.

»Ein Festtag« zeigt eine britische Gesellschaft, die mehr als gewohnt in ihren Regeln und Ritualen versteinert ist – zur stiff upper lip kommen hier noch maßloser Schmerz und tiefste Trauer. Steif und freudlos versammeln sie sich an ihren edel gedeckten Tafeln um die gigantische Leerstelle, die der Erste Weltkrieg in ihrer Mitte hinterlassen hat: Bis auf einen sind alle Söhne der drei Familien, die sich zum Picknick auf dem Lande an gedeckten und bestuhlten Tischen treffen, nicht zurückgekehrt. Jeder Funke Lebensfreude ist erstickt, nur mühsam wahren sie die Form gepflegter Unterhaltung. Während Lady Niven keinen Hehl aus ihrem Leid macht, flüchtet sich ihr Mann (Colin Firth) in oberflächliches Geplänkel.

Während in der feinen Gesellschaft förmliche Distanz regiert, herrschen wahres Leben und flirrende Sinnlichkeit nur in heimlichen Begegnungen mit den Angestellten. Schon im ersten Bild rückt die Kamera Jane völlig ungebremst zu Leibe, so nah, dass nur ein Teil ihres Gesichtes die ganze Leinwand füllt. Da Jane (Odessa Young) keine Familie hat, muss sie am titelgebenden Festtag, dem britischen Mothering Day, auch keine Mutter besuchen, kann sich also mit Paul treffen (Josh O'Connor), dem letzten Sohn der Familie Sheringham, mit dem sie schon seit vielen Monaten eine heimliche Affäre verbindet. Während seine Eltern beim Picknick weilen, wo auch seine Verlobte ihn erwartet, empfängt er Jane zum ersten Mal an der Vordertür des Familienwohnsitzes und führt sie über die dunkle Holztreppe in sein lichtes Schlafzimmer.

In erfrischendem Kontrast zum streng britischen Ambiente fängt die in Le Havre geborene Schauspielerin und Regisseurin Eva Husson (»Bang Gang – die Geschichte einer Jugend ohne Tabus«) diese Affäre mit französischem Flair und betörender Luftigkeit ein, wie einen erotischen Sommerhauch. Mit unbefangener Körperlichkeit bewegen sich die beiden voreinander und miteinander, kosten jeden Moment aus, denn dieses Treffen soll das letzte sein, bevor Paul in ein paar Tagen in eine standesgemäße Hochzeit gedrängt wird. Als er aufbricht, um sich dem Picknick verspätet anzuschließen, bleibt Jane zurück, selbstvergessen hüllenlos wandelt sie durch die dunkel getäfelten Räume, als wolle sie deren Aura geradezu physisch in sich aufnehmen. Sie betrachtet Fotos von Pauls Brüdern, liebkost schöne Buchbände in der Bibliothek, während sie eine Zigarette raucht, setzt sich an den Küchentisch, wo sie ein Stück Pastete isst und ein Bier trinkt. Man fürchtet, dass sie jeden Moment ertappt werden könnte, und erklären muss, was sie nackt in dem fremden Haus zu tun hat. Aber dann kommt es viel schlimmer. 

Jane ist die Erzählerin der Geschichte, die der 1949 geborene Brite Graham Colin Swift 2016 veröffentlicht hat. Sie ist sinnlich unmittelbar eingefangen und zugleich literarisch überhöht. Jane wird dabei in gewisser Weise zum Alter Ego des Schriftstellers, denn kurz nach den beschriebenen Ereignissen kündigt sie ihren Job als Dienstmädchen, beginnt in einem Buchladen zu arbeiten und bald auch selbst zu schreiben. Wie in einigen der Bücher von Graham Swift geht es auch hier um die literarische Verarbeitung vergangener Erlebnisse: »When did you become a writer, Miss Fairchild?« wird Jane einige Jahre später als selbstbewusst und modern gestylte junge Frau von ihrem Freund gefragt. Dreimal sei das passiert, bekundet sie, am Tag ihrer Geburt, am Tag, an dem ihr Chef ihr seine alte Schreibmaschine überließ … Dass auch die in Rückblenden geschilderten Ereignisse dieses Festtages eine entscheidende Rolle gespielt haben, verheimlicht sie ihrem Liebhaber. Als Zuschauer ahnt man das da schon längst.

Meinung zum Thema

Kommentare

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bin zwar kein Literaturwissenschaftler und deshalb auch fachlich nicht dazu auserkoren, Kritik zu üben.
Glücklicherweise kann ich mich bei diesem Film den Ausführungen von Frau Sterneboerg komplett anschließen.
Ich hatte das Glück, diesen Film im Cinestar Augsburg in der OV-SNEAK-PREVIEW quasi als "Privatvorstellung" sehen zu dürfen, weil in Zeiten von Corona in Augsburg wohl niemand großen Drang verspürte, am vorletzten Montag um 19.45 Uhr eine OV-Version eines "Überraschungsfilms " anzuschauen!
Welch ein Glücksfall für mich!
Schon lange ist die Zeit im Kino für mich nicht mehr so schnell verflogen!
Mit cineastischen Grüßen
W.Etzel

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