Kritik zu Der verlorene Zug

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Lektionen in Menschlichkeit: Eine Jüdin, eine sowjetische Soldatin und eine junge Deutsche sind in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs aufeinander angewiesen

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Wochenlang war Edward Bergers »Im Westen nichts Neues« in aller Munde. Dabei hat der Film weder in Bezug auf Remarques Buchvorlage noch als (Anti-)Kriegsfilm wirklich Neues zu bieten. Er zeugt wie »Dunkirk« oder auch »1917« von einem Revival des Genres in den letzten Jahren. Die erwähnten Filme haben alle eines gemeinsam: Sie sind von Männern inszeniert und erzählen ihre Geschichten aus der Sicht von Männern. 

Mit »Der verlorene Zug« geht Regisseurin Saskia Diesing einen anderen Weg. Ihre Geschichte beginnt da, wo der Krieg endet: April 1945, ein Dorf namens Tröbitz nahe Magdeburg. Ein Zug mit knapp 2 000 jüdischen Deportierten strandet dort. Die Nazis sind geflohen, als sich die Rote Armee näherte, und haben die entkräfteten Menschen im Zug ihrem Schicksal überlassen. Unter ihnen sind auch die Niederländerin Simone und ihr geschwächter Mann Isaac, die von ihren Befreiern nach Tröbitz geschickt werden. Mitten im Chaos aus Plünderei, Gewehrsalven und Racheakten sucht Simone nach Essen für sich und Isaac. Sie und die sowjetische Soldatin Vera beobachten zufällig, wie die Mutter der jungen Winnie erschossen und die gesamte deutsche Bevölkerung vertrieben wird. Als Winnie nach einer Nacht im Wald zurückkehren darf, hat sich Simone mit Isaac bereits in ihrem Haus einquartiert. Der Ausbruch einer Typhusepidemie und die verhängte Quarantäne lassen die drei Frauen notgedrungen zusammenrücken.

Hitlers Tod im Bunker oder die bedingungslose Kapitulation Deutschlands sind dabei eher Randnotizen aus dem Radio. Denn nur, weil plötzlich Frieden herrscht, ist nicht alles wieder gut. Leid, Gewalt und Barbarei stoppen nicht automatisch mit dem Ende der Kämpfe an der Front. Traumatisierte Opfer und Soldat*innen verwandeln sich nicht über Nacht wieder zu Menschen mit Mitgefühl, Rachegelüste und Hass lassen sich angesichts unaussprechlicher Verluste nicht abschalten. »Der verlorene Zug« aber erzählt davon, wie die Empathie wider aller Wahrscheinlichkeit doch zurückkehrt. 

Glaubhaft wird das vor allem durch die hervorragenden Schauspielerinnen: Simones (Hanna van Vliet) wilde Entschlossenheit, zu überleben und ihren Mann zu retten, Anna Bachmann als trauerndes und trotziges Mädchen Winnie, das nie etwas anderes als Hitlerdeutschland und seine faschistische Indoktrination erlebt hat, und Vera (Eugénie Anselin), die die Grausamkeit ihrer Genossen verachtet und sich für die beiden anderen verantwortlich fühlt.

Saskia Diesing inszeniert behutsam, aber frei von jeglicher Rührseligkeit, wie die Frauen wider Willen zusammenwachsen. Eine geschickte Entscheidung ist dabei, dass sich die drei Frauen kaum verbal verständigen können. Die Sprachbarriere zwingt sie und uns dazu, auf Nuancen der Körpersprache zu achten. Das ermöglicht ein Verständnis für den Schmerz der jeweils anderen, das mit Worten nicht vermittelbar wäre. Die große Kunst des Films liegt darin, menschliche Solidarität selbst in einer Extremsituation wie dem Krieg als Hoffnung und Möglichkeit der Versöhnung plausibel zu machen.

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