Kritik zu Der menschliche Faktor

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Wer weiß, was passiert ist? Ronny Trockers zweiter Spielfilm nach »Die Einsiedler« (2016) handelt von der Unzulänglichkeit der menschlichen Wahrnehmung und von der Subjektivität jeder Erinnerung

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Der Blick schweift über das Kissen an der Sofakante entlang, über die mit Vorhängen verdunkelten Fenster, schweift an Regalen und aufgetürmten Liegestuhlpolstern entlang durch den schummrigen Raum, über die Essecke zum Flur. Es liegt etwas Unheimliches in diesem Blick, der ein leeres Haus ausmisst, kurz bevor außen ein Auto vorfährt und die Haustür aufgeschlossen wird: Es ist, als lauere im Inneren eine Gefahr auf die arglos Ankommenden, begleitet von einem kaum hörbaren dumpfen Ton, der eine unheimliche Präsenz suggeriert. »Ach, es stinkt schon wieder«, sagt die Mutter. »Könnt ihr bitte mal das Wohnzimmer lüften«, fordert der Vater die Kinder auf.

Wochenendtrip einer Familie an die belgische Küste, Vater, Mutter, ein Teenagermädchen und ihr kleinerer Bruder, Auszeit von der Arbeit in der eigenen Werbeagentur, kleine Misstöne wirken alltäglich, der Vater nervt, wenn er die Nachrichten sehen will, während die Kids vor dem Fernseher lümmeln. Dann erledigt der Vater (Mark Waschke) ein paar Einkäufe, bei seiner Rückkehr aus der Ferne ein kleiner Aufruhr, er horcht, die Irritation verfliegt. Als er etwas später nach einem Telefonat zu Hause ankommt, ist seine Frau (Sabine Timoteo) erregt, sie blutet aus der Nase, berichtet von Eindringlingen, die sie verscheucht habe. Nach einer Weile wechselt die Perspektive, beginnt die Erzählung wieder von vorn, es passieren dieselben Dinge, werden aber vom Sohn anders wahrgenommen und interpretiert als vom Vater, manche Geheimnisse lösen sich auf, neue entstehen.

Wie stark sich eine Geschichte verändert, wenn sie aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird, gehört zu den Standarderzählungen des Kinos. In der multimedialen Welt des 21. Jahrhunderts sind solche Erzählformen häufiger geworden, in »Vantage Point« wurde ein Anschlag auf den Präsidenten aus verschiedenen Blickwinkeln rekapituliert, jede neue Version brachte neue Erkenntnisse. Gus Van Sant betrachtete in »Elephant« ein Schulmassaker aus verschiedenen Perspektiven. Und in der deutschen Miniserie wurden 8 Zeugen zu einem Bombenattentat befragt. In »Der Menschliche Faktor«, seinem zweiten Spielfilm, spürt Ronny Trocker den Erschütterungen in einer Familie nach, der zersetzenden Wirkung kleiner Ereignisse, die verschiedene Familienmitglieder unterschiedlich aufnehmen. Doch den Wechsel der Perspektive vollzieht er nicht konsequent, der Junge verschwindet aus seiner Version der Geschichte, die Mutter übernimmt, und irgendwann auch die zahme Ratte, das Haustier des Jungen. Es geht um die Brüchigkeit von Fakten und Beziehungen, um den menschlichen Faktor, der vor allem Ahnungen und Unsicherheiten ins Spiel bringt. Das könnte sich zu einem pointierten Stimmungsbild unserer Zeit verdichten, die immer wieder über Nachrichtenmeldungen und Gespräche aus dem Off ins Bild sickern. Nur leider bleibt Trocker in der Ausführung zu vage und sprunghaft, behauptet die Entscheidungen seiner Charaktere, statt sie zu entwickeln. So wirkt »Der menschliche Faktor« ein wenig wie die Skizze zu einem vielversprechenden Film.

Meinung zum Thema

Kommentare

Ich finde es gerade spannend, dass Trocker nicht alles auserzählt, dass für den Zuschauer Raum bleibt für Vermutungen. So muten dann die Brüche, plötzliche verbale Entgleisungen des Mannes gegenüber seiner Frau oder der Tochter gegenüber der Mutter, wie Sand im Getriebe an, der diese Familie irgendwann auseinandertreiben wird. Ich fand die Verschachtelung großartig, ebenso die Bildsprache mit den blassen Farben.

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