Magische Stunde

Der Sunset Boulevard müsste nicht so heißen. Man kann ihn schließlich in zwei Richtungen befahren. Würde Sunrise nicht viel besser zu Aufbruch und amerikanischer Unternehmungslust passen?

Aber dafür müsste man den Blick nach Osten richten, was das US-Kino noch nie so richtig gern tat. Nein, das Streben ging stets nach Westen, um immer neue Grenzen zu erreichen und zu überwinden. Darin lag das Zukunftsversprechen dieser Kultur. Auf ihrem Weg durch Los Angeles stößt die berühmte Straße schließlich auf die letzte geographische frontier, die Pazifikküste. Wohin konnte es danach noch weitergehen? Die potenzielle Entzauberung ließ sich jedoch abwenden. Ich glaube, die Filmindustrie zog in den 1910er Jahre nicht nur wegen des großzügigen Sonnenlichts von der Ostküste nach Kalifornien um.

Billy Wilder wusste schon, weshalb er seinen Nekrolog auf das alte Hollywood nicht „Sunrise Boulevard“ nannte. Der Sonnenuntergang ist die reichere, anschaulichere Metapher: Er steht für das Glühen der Farben, die letzte Intensität des Feuers, auch für das Aufbäumen gegen die Wehmut der Vergänglichkeit. Das Kino hat diese Zeitspanne rasch vereinnahmt: Das, was man anderswo die „magische Stunde“ nennt, wurde in Hollywood stolz „the Griffith hour“ getauft. Wie atemlos sie verstreichen kann, ist in einer Szene in „Babylon“ von Damien Chazelle zu sehen. In halsbrecherischem Tempo muss Manuel (Diego Calva) eine Kamera zum Drehort bringen, damit die letzte Einstellung der teure Massenszene noch vor Erlöschen der letzten Sonnenstrahlen im Kasten ist. Das gelingt um Haaresbreite dank seiner automobilen Rettungsaktion, die durchaus an die Verfolgungsjagd zum Ende des Gegenwartsstrangs in Griffith' „Intolerance“ erinnert. Über Anschlussfehler macht sich an diesem Set offenbar niemand Gedanken.

Das Abendglühen als Symbol für die Überreife, in der die Stummfilmära ihren Zenith überschreitet, habe ich an dieser Stelle schon häufiger bemüht. Auch bei Chazelle ist es noch intakt; seine Farbenspiele sind greller, wenngleich nicht unbedingt im Wortsinne. Mit seinem Titel greift er indes eine andere Metapher auf. Dabei muss man weniger an das biblische Sprachgewirr denken, sondern vielmehr an die Sünde. Er zelebriert Ausschweifung, Exzess und Zügellosigkeit als ein wagemutiger Puritaner. Er feiert einerseits den ureigen amerikanischen Elan dieser Hollywoodpioniere, ihr Hedonismus bleibt jedoch nicht ungestraft. Im Kern aber setzt er die werdende (tatsächlich längst schon gewordene) Filmmetropole setzt er als einen anderen Wilden Westen in Szene. Immer wieder wird die Katastrophe in letzter Minute noch abgewendet. Nicht durch die Kavallerie, die das Massaker an den Siedlern verhindert, sondern durch findige Regieassistenten, beneidenswert trinkfeste Stars oder durch Margot Robbies Gabe, pünktlich Tränen vergießen zu können. Das Filmgeschäft erscheint als haarsträubend besinnungslose Maschinerie, die immer noch die Kurve kriegt.

Von dessen Magie ist bei Chazelle häufig die Rede, vor allem aus dem Munde Brad Pitts, der inzwischen zum Elder Statesman der Rückblicke auf Hollywood, wie es nicht war, herangereift scheint. Unsere Pressevorführung liegt zwar schon eine ganze Weile zurück, aber ich frage mich immer noch, worin diese Magie denn eigentlich bestehen soll. Im Stummfilmkino mag er sie nicht entdecken. Dazu liebt er es zu wenig. Folgerichtig macht er sich das Urteil von „Sininging in the Rain“ zu eigen, dass Schauspielkunst erst mit dem Tonfilm erforderlich wird – als hätten davor blendendes Aussehen, Geistesgegenwart und Verve genügt. Als Allegorie auf den aktuellen Medienwandel (siehe Patrick Heidmanns Interview mit dem Regisseur im Januarheft) reicht das allemal hin. Ich nahm in seinem Film eher einen Rausch der Agonie wahr als der ekstatischen Begeisterung.

In den letzten zwölf Monaten mehrten sich ja die filmischen Abschiedbriefe an ein Kino, das im Verschwinden begriffen ist. Oder genauer: an eine Vorstellung davon, die erlischt. Es ist so, als wollten die Filmemacher ihre belagerte Kunstform und das Kinoerlebnis schnell noch einmal sentimental aufleben lassen, darunter etwa Sam Mendes mit „Empire of Light“, der heute in einem Monat startet. Die Entesselung der Nostalgie ging im vergangenen Februar „Belfast“ los, in dem sich Kenneth Branagh an das Kinoglück seiner Kindertage erinnert. Aber bekam das Publikum 1969 noch wirklich einen Schreck, als Chitty Chitty Bang Bang abzustürzen droht über dem Abgrund der Felsküste? In „Das Licht, aus dem die Träume sind“ fand die Serie der Liebeserklärungen an den magischen Ort im Mai ihre Fortsetzung. Vergnügt greift Alexandra Seitz in ihrer Kritik den Werbeslogan des „Cinephilgood-Drama“ auf, der Pan Nalins Film ganz gut beschreibt. Er beschwört den Zauber der analogen Vorführtechnikund lässt die Kinder in der indischen Provinz noch einmal die haptischen Freuden des Zelluloids entdecken, bevor die Filmrollen dann eingeschmolzen werden. Auch in „Eine Sekunde“ von Zhang Yimou (gewiss, der zensurgeplagte Film ist schon ein paar Jahre älter, aber sein Deutschlandstart im Juli fügt sich gut in diese Chronologie) erlebt die Zelluloid-Projektion ein grandioses letztes Hurra: wiederum eine Rettungsaktion kurz vor Toresschluss, durchgeführt mit atemberaubendem Projektionisten-Raffinement. In Steven Spielbergs semi-autobiographischem „The Fabelmans“ (der im nächsten Monat bei uns herauskommt) hantiert das kindliche/ jugendliche Alter Ego des späteren Regisseurs schon ganz sehr professionell mit den Filmstreifen, auf denen seine Träume enthalten sind.

Davor, Mitte dieses Monats und pünktlich zum Berlinalebeginn, läuft »Final Cut of the Dead« von Michel Hazanavicius an. Er braucht eine Weile, bis er Fahrt aufnimmt. Dann zeigt sich, dass hier das Filmemachen ebenfalls eine bizarr-bravouröse Hetzerei sowie eine Spielart des Krisenmanagements ist. Wem tatsächlich der Sinn nach einem Double Feature stehen sollte, könnte ihn mit »Babylon« kombinieren, denn auch hier gibt es Kotzorgien und überstrapazierte Schließmuskeln. Die aktuellen skatologischen Aufhellungen (in »The Fabelmans« ist ebenfalls einmal von elephant shit die Rede, aber insgesamt geht es bei Spielberg doch vorstädtischer zu) könnte man als ein fernes, gleichwohl lautes Echo der Blähungen Julianne Moores in David Cronenbergs Hollywoodabrechnung »Maps to the Stars« nehmen. Mit Blake Edwards kann man sie jedoch als Symptome der Angst vor Kontrollverlust und dem Altern lesen. Also Endzeitphänomene? Nun, bei Hazanavicius geht es um den Dreh eines Zombiefilms. Untote – noch so eine Kinometapher.

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