Interview mit Kelly Reichardt

»Bei mir packen alle mit an«
Kelly Reichardt

Kelly Reichardt ist eine der profiliertesten Vertreterinnen des amerikanischen Independentkinos. Mit ihrem ersten Spielfilm, River of Grass, fiel die 1964 in Miami geborene Regisseurin bereits Anfang der Neunziger in Sundance auf. Ihre internationale Karriere kam aber erst vor knapp zehn Jahren richtig in Fahrt: mit Old Joy (2006), einer Geschichte um zwei Männer, die auf einem Campingtrip die Fäden einer alten Freundschaft wiederaufnehmen, und Wendy and Lucy (2008), in dem eine junge Frau mit ihrem Hund über Land reist und allmählich ins soziale Nichts entgleitet. In den beiden Filmen entwickelte Reichardt ihren charakteristischen reduzierten Stil – mit wenigen Figuren, sprechenden Details und Landschaften, die Seelenräume sind oder gesellschaftliche Standpunkte abbilden. Der Western Meek’s Cutoff von 2010, der sich um eine Gruppe von Siedlern dreht, die auf dem Oregon Trail in die Irre gehen, wirkte auf diesem Hintergrund schon fast üppig. Und nun Reichardts neue Arbeit Night Moves: fast ein Thriller, ein Ökothriller, in dem zwei eher mit dem Mainstreamkino assoziierte Stars, Jesse Eisenberg und Dakota Fanning, einen Staudamm in die Luft sprengen. Wie kommt das zusammen? Claudia Lenssen hat Kelly Reichardt in Berlin getroffen

epd Film: In Night Moves planen drei Umweltaktivisten einen Anschlag auf einen Staudamm. Teilen Sie ihre Idee, dass die Umweltzerstörung apokalyptische Ausmaße angenommen hat?

Kelly Reichardt: Seit den 1960er Jahren warnt man uns davor. Wir sehen, dass die Auslöschung vieler Tier- und Pflanzenarten voranschreitet. Ich weiß nicht, ob und wie eine Umkehr möglich wird, wenn die Regierung mit der Ölindustrie derart eng verbunden ist wie in Amerika. Barack Obama befürwortet das Fracking, aber die Konsequenzen dieser Technologie sind nach seiner Amtszeit nicht rückgängig zu machen. Die chemischen Stoffe, die man in die Erde pumpt, bleiben drin und bedrohen die Wasserressourcen. Methangas entweicht und beschleunigt den Klimawandel. Aber man nennt es »Natur«-Gas. Die Politik operiert mit den Begriffen Natur und Freiheit, wobei Freiheit mit industrieller Ausbeutung gleichgesetzt wird.

Die Geschichte der Verschwörer in Night Moves setzt bei einem Staudammprojekt an. In Oregon, wo mein Schreibpartner Jon Raymond lebt, gehört die Wasserproblematik zu den täglichen Nachrichten. Der Lauf des Columbia River ist von vielen Stauseen unterbrochen, die alte Wälder und Farmland begraben. Nicht zuletzt deshalb ist die Umweltbewegung im Nordwesten der USA entstanden. Ich persönlich lebe in New York, wo all diese Fragen kaum politische Stoßkraft entwickeln. Man hat dort keine Natur vor dem Fenster. Aber als Jon und ich in Oregon Schauplätze für unser Projekt suchten, kamen wir mit Leuten vor Ort ins Gespräch, die unmittelbar erfahren, wie die Natur verliert durch die gigantischen Seen zur Energiegewinnung und verschwenderischen Wasserversorgung. Die Seen sind auch Freizeitparks, weil das Fischen hier einfach ist. Die Wasserstände sinken, und die Fische drängen sich auf engem Raum. Der Staudamm im Süden von Oregon, der unser Schauplatz war, blockiert die Wanderbewegung der Lachse. Man fängt sie, fährt sie um den Damm herum und setzt die Überlebenden ins Wasser zurück.

Wie kommen die Idealisten im Film auf die Idee zu einem Anschlag auf den Damm?

Es ist ein Mini-9/11, ein symbolischer Akt aus unterschiedlichen Motiven. Josh – Jesse Eisenberg – ist Ökofundamentalist. Die Figur könnte auch ein rechter Teaparty-Anhänger sein, der seine Ideologie keine Sekunde infrage stellt. Fundamentalismus, der zu extremen Handlungen verleitet, findet sich auf allen Seiten des politischen Spektrums. Jon Raymond hat da seine Beobachtungen ins Script eingebracht.

Als der Akt ein Menschenleben fordert, ändert sich die Tonlage. Die junge Frau, Dena, gespielt von Dakota Fanning, entwickelt schwere Schuldgefühle. Geht es Ihnen dabei um Moral?

Ich überlasse es dem Publikum, Plotfragen zu diskutieren. Die drei halten zusammen, solange sie ein gemeinsames Ziel haben. Wenn kein Plan mehr existiert, sind sie sich selbst überlassen. Mich interessiert, wie sie sich individuell verhalten, wenn die Gruppenmentalität aufbricht und die Tat zweideutig und entleert nachwirkt. Das ist wie in einem Gangsterdrama, in dem ein Überfall geplant wird, zu dem ein Fahrer hinzukommt, den niemand kennt. Trauen sie ihm? Wir spielen mit diesem Muster, um eine zwiespältige zeitgenössische Geschichte zu verhandeln.

Gibt es militante Ökofundamentalisten in den USA?

Ja, aber seit George Bush Jr. gilt jeder als Terrorist, der seine Opposition öffentlich macht. Wenn jemand Benzintanks hochgehen lässt, wird das als terroristischer Akt verfolgt. Ich würde es auch nicht gutheißen, aber es ist nicht radikaler, als systematisch die Natur zu zerstören oder Millionen Gallonen Öl ins Meer zu spucken, die dann mit Chemikalien auf den Grund gesenkt werden. Fracking ist radikal. Alles hängt davon ab, wer die Deutungsmacht besitzt. Ich halte diese Skandale für eine Art Terrorismus, aber niemand geht dafür ins Gefängnis. Labels werden gesetzt und Begriffe geprägt. Die Welt an das Fracking zu verkaufen, obwohl jeder weiß, dass wir die globale Erwärmung bekämpfen müssen, ist radikal, es sei denn, man hat die präsidiale Macht inne.

Der grassierende Terrorismusverdacht hat die friedliche Opposition mundtot gemacht. Proteste gegen die Öl- oder Fleischindustrie gibt es kaum noch, weil die Strafen für angeblich terroristische Akte drakonisch sind. Die Post-9/11-Welt macht es schwer, überhaupt entschiedene Standpunkte einzunehmen. Du kannst dich an Bäume binden, um einen Wald zu retten, aber damit kommst du nicht in die Nachrichten.

Unser Film stellt die Frage, was in dieser Situation denkmöglich ist. Ideen auf unterschiedlichen Levels kommen vor, wie die des Farmers, der seine Molkereilizenz verbrennt, weil er seine Milch nicht zwangsweise pasteurisieren will. Der Mann landet mit seiner Entscheidung für die Rohmilchkäseproduktion auf dem schwarzen Markt. Zählen solche kleinen Akte überhaupt? Was wäre dann die angemessene Antwort auf die enge Beziehung, die »Ehe« der Energieindustrie mit der Regierung?

Verstehen Sie Night Moves als Kampagnenbeitrag?

Festivals erlebe ich eher als »Pomp and Circumstance«. In Toronto etwa interessierte man sich in erster Linie für Jesse Eisenberg, weil er in The Social Network mitspielte, und für Dakota Fanning, weil man sie als Twilight-Star wahrnimmt. Wir hatten auch Screenings in Frankreich, unter anderem mit Greenpeace-Gruppen, die ziemlich irritierend verliefen. Die Fragen aus dem Publikum haben mir gezeigt, dass die Rechte ihre simple Ideologie selbstsicher verbreitet, während die Linke in Grabenkämpfen steckenbleibt. Es gibt eine lange filmhistorische Tradition der Auseinandersetzung mit dem Radikalismus, die mich als Regisseurin und auch in meinen Seminaren als Professorin für Film am Bard College N. Y. sehr interessiert. Night Moves ist von Robert Bressons Film Der Teufel möglicherweise inspiriert, und auch meine anderen Filme lehnen sich an seinen minimalistischen Stil und seine Methode des indirekten Erzählens an. Mein Eindruck ist, dass es Filme in den USA generell sehr schwer haben, die heikle politische Fragen stellen und sie zudem am Ende in all ihrer Widersprüchlichkeit offenlassen.

Haben Sie solche Fragen mit Ihrem Publikum diskutiert?

Wir hatten das Glück, unsere Filme auf großen Festivals zu starten, zuletzt Meek’s Cutoff und Night Moves in Toronto und Venedig. Ich freue mich natürlich über die Aufmerksamkeit und noch mehr über Auszeichnungen für unsere Art, Independentfilme zu erzählen, aber ich wünsche mir auch, dass ich sie in einer Umgebung zeigen kann, die sich auf den Film konzentriert, nicht auf Stars und Schlagzeilen. Schön wäre, wenn Dakota Fanning die Leute, die sie in den Twilight-Filmen lieben, dazu bewegen könnte, in Night Moves zu gehen. Aber ich weiß nicht, ob wir damit rechnen können.

Sie besetzen Ihre Filme mit Schauspielern, die einen bestimmten Mainstream-Glamour mitbringen. In Wendy and Lucy und Meek’s Cutoff war das Michelle Williams. In Night Moves sind es Fanning, Jesse Eisenberg und Peter Saarsgard, die Sie konträr zum üblichen Typecasting besetzen. Was heißt das für die Zusammenarbeit am Set?

Ich habe in allen meinen Filmen die Erfahrung gemacht, dass die Hauptdarsteller sich als Teil der Crew fühlten und sich nicht als Stars separieren wollten. Es machte schon viel aus, auch für die Vorbereitung der Rolle und die Atmosphäre am Set, wenn Peter Sarsgaard selbst das Boot transportierte, das für die Szenen auf dem Stausee gebraucht wurde, oder sich ans Steuer des Produktionstrucks setzte. Dakota Fanning, die seit ihrer Kinderzeit vor der Kamera steht, erlebte unsere Arbeitsweise, die weitgehend ohne Hierarchie funktioniert, als großen Kontrast zu ihrem üblichen Dreh­alltag. Wir hatten Glück, sie waren alle selbstverständlich und sehr bodenständig integriert in die Crew.

Wie muss man sich die Arbeit an Ihren Low-Budget-Produktionen vorstellen?

Dakota, Jesse und Peter Sars­gaard wohnten im selben Hotel wie das Team. Sie warteten trotz Kälte am Set, waren ihre eigenen Stand-ins und fuhren nach Drehschluss im eigenen Auto zurück. Alle fassen mit an. Als wir für Meek’s Cutoff, unsere Geschichte einer in die Irre geführten Gruppe von Pionieren auf dem Trail nach Westen, auf einem stillgelegten kleinen Flugplatz in Oregon drei historische Planwagen gebaut und ausgestattet hatten, musste wirklich jeder im Team mit anfassen, um unsere kostbaren Requisiten zum Set zu transportieren. Selbst wenn man solche Abenteuer nur alle paar Jahre realisiert und am Ende immer erschöpft ist, fällt die Trennung schwer. Man weiß, dass man etwas zusammen durchgestanden hat. Was bleibt, ist ein gewisser Zusammenhalt. Ich kann auf diese Leute zählen, wenn ich, schwer genug, wieder einen Film drehe.

Ihr Debüt River of Grass war eine Eheausbruchskomödie, angesiedelt in Ihrer Heimat Florida, Old Joy erzählte von einem Ausflug zweier melancholischer Mittdreißiger, Wendy and Lucy von einer jungen Frau, die auf einer Reise in eine soziale Abwärtsspirale gerät. Alle Ihre Filme nach River of Grass, auch Meek’s Cutoff und Night Moves, sind im Nordwesten der USA entstanden. Was fasziniert Sie an diesen Landschaften und Menschen?

Die Spielfilme, die Sie genannt haben, basieren auf Kurzgeschichten von Jonathan Raymond, mit dem ich an allen Filmprojekten als Autorin zusammengearbeitet habe. Er lebt in Oregon und interessiert sich für einen bestimmten Ton beiläufig erzählter realistischer Geschichten aus dieser Region. Unsere Kooperation bringt es mit sich, dass ich mich auf Ideen einlasse, die von ihm stammen und seinen Short Stories entlehnt sind. Ich ziehe es vor, für meine Filme aus New York herauszugehen, die Stadt, die Filmszene und die Universität hinter mir zu lassen und da zu drehen, wo wir für uns sind. Außerhalb der Zivilisation gewissermaßen, weil uns da niemand stört. Es gibt keine Besuche am Set, keine Vorausinformationen, keine Agenten, die glauben, sich um ihre Schützlinge kümmern zu müssen.

Ich liebe Orte, an denen man auf sich selbst gestellt ist. Dort mit Freunden eine Geschichte zu realisieren, die all die Schwingungen zwischen Katastrophe und Ironie enthält, ist mein ultimativer Traum. Man isst und trinkt sein Bier zusammen. Meist wollen mich die anderen dann loswerden, weil ich die Arbeit repräsentiere. Das Wichtigste ist, dass wir vom Rest der Filmwelt isoliert sind und tief in unserer Sache drin. Es ist eine andere Erfahrung, als wenn man in einer Stadt dreht und jeder abends nach Hause fährt. Filmemachen ist für mich ein Abenteuer mit Menschen, manchmal auch eine unglaubliche Herausforderung, mit dem Wetter zu arbeiten.

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