Kritik zu Wo in Paris die Sonne aufgeht

© Neue Visionen Filmverleih

Jacques Audiards neuer Film basiert auf einigen grafischen Kurzgeschichten des amerikanischen Comiczeichners Adrian Tomine, die so undramatisch sind, dass ihre Verfilmung fast unmöglich scheint. Doch der Franzose verwandelt sie souverän in einen modernen Liebesreigen

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Kaum vorstellbar, aber dieses Paris kommt ohne Eiffelturm aus. Auch für andere Wahrzeichen der Stadt hat der Film keine Verwendung. Jacques Audiards neuer Film entdeckt uns ein Paris, das Jahrhunderte entfernt liegt von der urbanen Ordnung, die Baron Haussmann ihm einst gab.

Der Film trägt sich exklusiv in dem Neubauviertel Les Olympiades zu, dem er seinen Originaltitel verdankt. Hier, im 13. Arrondissement im Südosten, geht tatsächlich die Sonne auf. Aber man sieht sie nie hinter all den Hochhäusern. Es mutet wie ein Terrain kalter Anonymität an. Aber auf eine Frau, die hier neu ankommt, wirkt es wie ein Dorf. Eine andere fühlt sich an Shanghai erinnert: Willkommen in der Moderne.

Die Romantik scheint hier kein Hausrecht zu haben, aber das entmutigt Audiard nicht. Wenn die Kamera eingangs über die schroffen Betonfassaden gleitet, verhängt sie einen Zauber über die Szenerie. Hinter jedem Fenster könnte sich eine Geschichte abspielen, die erzählenswert ist. Vielleicht muss man jung sein, um das zu sehen, in einem Alter, in dem die Unternehmungslust keine Hindernisse scheut und man keine Angst hat, mit der Liebe zu spielen. Dann kann sie ein Wettstreit sein, an dessen Ende es zwei Gewinner gibt. Dafür muss jemand Regie führen, der seine Figuren gewähren lassen kann.

Schon zuvor war Audiard ein Meister der Mesalliance. Es bereitet ihm riesiges Vergnügen, wenn Paare auf Anhieb partout nicht zusammenpassen – dank ihres Temperaments, ihrer Herkunft, Bildung oder Empfindsamkeit – und dann entdecken, dass die Begegnung das beste Angebot war, das das Leben ihnen machen konnte. Hier fasziniert ihn, wie sich die Konversationsregeln des Begehrens verändert haben. Seine LiebessucherInnen sprechen dieselbe Sprache (ein enormer Vorteil, den sie gegenüber dem Paar aus »Der wilde Schlag meines Herzens« haben), aber sie steckt voller Codes, die füreinander erst übersetzt werden müssen.

Emilie (Lucie Zhang) arbeitet anfangs in einem Callcenter, kann ihre Zunge aber nicht im Zaum halten. Sex versetzt sie in Euphorie, Audiard filmt sie danach in schwelgerisch beglückter Zeitlupe. Ihr neuer Mitbewohner, der Französischlehrer Camille (Makita Samba), ist ein Wunder der Elastizität. Er scheint sich auf jede neue Situation und Gefühlslage mühelos einstellen zu können, hadert aber insgeheim damit, wenn seine Partnerinnen die Regeln ändern. Die Gereiztheit, die immer wieder brüsk zwischen ihnen ausbricht, ist erotisch vielversprechend. Die strenge Jurastudentin Nora (Noémie Merlant) schießt gern übers Ziel hinaus. Einer Studienkollegin, die sie gemobbt hat, verpasst sie einen Faustschlag, der wirklich sitzt. Und als sie die Frau ihrer Träume trifft, fällt sie erst einmal in Ohnmacht. Beide, Faustschlag und Ohnmacht, haben eine kuriose Vorgeschichte. Zu einer Spring-Break-Party erscheint Nora mit blonder Perücke und kühn geschminkt, woraufhin einige Kommilitonen sie mit einer Unverschämtheit anmachen, die sie aus dem heimischen Bordeaux nicht kannte. In ihrer Maskerade sieht sie dem Cam-Girl Amber Sweet (Jehnny Beth) zum Verwechseln ähnlich. Nora forscht nach. Zuerst chatten die unverhofften Doppelgängerinnen miteinander, und dann fangen sie an, miteinander zu reden. Derweil lernt sie Camille kennen, der inzwischen als Immobilienmakler arbeitet, dabei heillos überfordert ist und sie zur Unterstützung einstellt. Die zwei werden ein Liebespaar, aber nicht länger als nötig.

Dieser Liebesreigen mutet so flink gegenwärtig an, dass man Angst bekommt, die eigenen Begriffe hielten nicht Schritt, um ihm gerecht zu werden. Klingt es nicht viel zu angestaubt zu schreiben, die vier suchten Verbindlichkeit in der Liebe? Vielleicht genügt es erst einmal zu sagen: Sie soll gelten. Jeder will sich einen Platz im Gefühlsleben der oder des anderen erstreiten und ihn, je nachdem, behaupten. Die Abgeklärtheit ist ein hilfreicher Panzer; zumal wenn sie mit Ironie einhergeht. Aber Audiard ist unerbittlich. Seine Filme hören erst dann auf, wenn es ein Bekenntnis gibt zu den echten Gefühlen.

Audiards Film gibt sich nicht ohne weiteres als das zu erkennen, was er im Kern ist: eine Sittenkomödie. Er scheut sogar Momente des Slapsticks nicht (einer von ihnen, er dreht sich um einen Rollstuhl, ist allerdings todtraurig) und greift das bewährte Motiv der Verwechslung auf. Insgeheim aber buchstabiert er ein zweites Thema der Moderne auf: die Identität. Sie steht nicht fest, ist brüchig und wandelbar. Nicht von ungefähr besucht Nora eine Vorlesung, in der es um die juristische und die moralische Person geht. Emilies Großmutter verliert ihre Identität an die Demenz. Ihre Enkelin engagiert eine Stellvertreterin für die Besuche bei ihr; die Greisin wird den Unterschied nicht bemerken. Camilles jüngere Schwester will Stand-up-Comedian werden. Sie hat das Talent dazu und keine Angst, in ihrer Bühnenfigur Privates preiszugeben. Mitunter hat man für einen Sekundenbruchteil den Eindruck, die SchauspielerInnen würden mit jeder neuen Episode in eine andere Rolle schlüpfen. Die gemobbte Studentin Nora bewegt sich im Immobiliengeschäft so souverän wie ein Fisch im Wasser. Audiard erwartet von seinen Charakteren nicht weniger, als sich ständig neu zu erfinden.

Den gleichen Anspruch stellt er an sich selbst. Dabei scheint er stilistisch auf den ersten Blick einen Schritt zurückzugehen. Er hat »Wo in Paris die Sonne aufgeht« in Schwarz-Weiß gedreht. Sein Kameramann Paul Guilhaume taucht das 13. Arrondissement in ein Monochrom, das ebenso romantisch wie aufgeklärt wirkt. Im Schneideraum greifen Audiard und seine Cutterin Juliette Welfling auf lauter altgediente Stilmittel zurück – Irisblenden, Splitscreen, Zeitlupe –, die jedoch ganz frisch und geistesgegenwärtig eingesetzt sind. Die einzelnen Kapitel künden verschmitzte Zeitangaben an: Sie lauten »So fing es an«, »Einen guten Monat später« und zum Schluss »Sonntag«. Welches Versprechen in diesem Datum liegt, kann man sich schwer vorstellen. Man muss es sehen.

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