Kritik zu The Sisters Brothers

© Wild Bunch

Der Franzose Jacques Audiard schickt in seinem ersten englischsprachigen Film vier Westernhelden auf die Suche nach ihrer eigenen Identität und einer Zukunft jenseits des Revolverheldendaseins an der »Frontier«

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Was machen eigentlich Westernhelden, wenn sie nicht gerade heldische Taten vollbringen? Beziehungsweise: Ist ein sogenannter Revolverheld tatsächlich ein Held, nur weil er besser mit einem Revolver umgehen kann als ein anderer? Und nur mal so am Rande: Worüber haben die Männer im Wilden Westen wohl den lieben langen Tag geredet?

Bestimmt hat jeder, der das Westerngenre liebt, sich schon einmal gefragt, ob John Wayne, also der Duke, beziehungsweise die unerschütterlichen kernigen Mannsbilder, die dieser wie kein Zweiter in die Prärie stellen konnte – ob also diese Hünen möglicherweise auch einmal aufs Klo mussten, vom Pferd fielen, zum Einkaufen gingen oder sich schlicht und ergreifend fragten, was das alles soll und wozu überhaupt? Man(n) kann doch nicht den ganzen Tag ein kerniger Hüne sein, der aus der Prärie ragt, ein Monument im Monument Valley. Es muss Lücken im Heldischen geben, in denen die Normalität Platz hat, jain denen vielleicht sogar die Durchschnittlichkeit zu ihrem Recht kommt und mit ihr das mittelmäßig Menschliche.

Derartige Lückenfüller sind Eli und Charlie Sisters, kurz: die Sisters Brothers, die Titelhelden von Jacques Audiards Western, der sich auf ungewöhnliche Weise dem Gewöhnlichen widmet und der dafür in Venedig mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie ausgezeichnet wurde.

Eli, der Ältere, und Charlie, der Bösere, sind als Troubleshooter im Auftrag der grauen Eminenz der Region unterwegs, eines gewissen Commodore, der in irgendeinem Kaff ein pompöses Haus bewohnt und von dort aus die Fäden zieht; er ist die Spinne im Netz, in dem die anderen zappeln. Wir schreiben das Jahr 1851 und befinden uns in Oregon; die ersten Zahnbürsten finden ihren Weg an die »Frontier«, und in größeren Städten staunt man bereits über Wasserklosetts. Eli steht dem Fortschritt grundsätzlich aufgeschlossen und neugierig gegenüber; er ist es auch, der sich fragt, wo dieses Leben, für das er sich mit seinem Bruder vor langer Zeit entschieden hat, denn eigentlich hinführen soll. Eine Überlegung, die bei Charlie, der sich oft und gerne dem Suff ergibt und sodann in Raufhändel stürzt, nichts als Hohn und Spott auslöst. Doch die beiden Outlaws sind inzwischen weit in ihren Dreißigern, und Elis Frage stellt sich mit einer gewissen Dringlichkeit.

Diesem Brüderpaar steht nun ein nicht minder krisenhaft gezeichnetes Freundespaar in Gestalt eines Chemikers und eines Privatdetektivs gegenüber. Der eine trägt den schönen Namen Hermann Kermit Warm, der andere heißt einfach nur John Morris. Und auch diese beiden denken da­rüber nach, welchen tieferen Sinn sie ihrem Leben vielleicht doch noch geben könnten. Kompliziert wird die Sache dadurch, dass Morris eigentlich den Auftrag hatte, Warm zu finden, um ihn an die Sisters Brothers auszuliefern. Dann aber motiviert Warms Traum von einer sozialistisch geprägten Lebensgemeinschaft den bereits von Resignation angekränkelten Morris, die Seiten zu wechseln, dadurch auch die Pläne von Eli und Charlie über den Haufen werfend.

Unschwer ist zu erkennen, dass man es in »The Sisters Brothers« mit vier Protagonisten zu tun hat, die zwar das Klischee vom Westernhelden nicht erfüllen, die aber als durchaus glaubwürdige Männerfiguren durchgehen können. Männer, die im Westen das Glück oder ein Auskommen suchen, die auf der Flucht vor anderen sind und vielleicht auch vor sich selbst. Männer, die ihr Gehirn zum Denken gebrauchen, die Sprache zur Kommunikation, und die sich auf ihren schicksalhaft verschlungenen Wegen mit grundsätzlichen Entscheidungen konfrontiert sehen; nicht zuletzt jener, ob sie nun aufeinander schießen sollen oder nicht.

Denn geschossen werden muss, das ist klar. Doch die Lakonie, mit der Audiard die Schießereien in Szene setzt, gerne aus der Ferne, in der Finsternis oder gleich außerhalb des Frames, belegt seinen unamerikanischen Zugriff auf das uramerikanische Genre. Da könnte man es sich nun natürlich einfach machen und »The Sisters Brothers« – den ersten englischsprachigen Film des französischen Regisseurs, dessen bisheriges Werk (zuletzt, 2015, »Dheepan«) keine Mainstream-Ambitionen erkennen ließ – einen europäischen Arthouse-Western nennen; zumal die Außenaufnahmen zur Gänze in Spanien und Rumänien gedreht wurden. Angestoßen hat das Projekt allerdings John C. Reilly, der in der Rolle Elis agiert und der sich gemeinsam mit seiner Frau, der Produzentin Alison Dickey, die Rechte am zugrundeliegenden gleichnamigen Roman des Kanadiers Patrick deWitt von 2011 gesichert hatte. Neben Reilly sind mit Joaquin Phoenix (Charlie) und Jake Gyllenhaal (John Morris) zwei weitere US-Schauspieler zu sehen, die sich vor allem durch die Komplexität ihrer Männerporträts auszeichnen. Dazu gesellt sich mit dem pakistanischstämmigen Briten Riz Ahmed in der Rolle Warms eine ethnische Färbung ins Ensemble, die eine gewisse Art von Verletzlichkeit mit sich bringt – und die wiederum auf die anderen rückwirkt. Die Perspektive des Außenseiters, die Audiard an das ebenso altehrwürdige wie anpassungsfähige Genre des Westerns zweifellos anlegt, steht auch in einer Tradition. »The Sisters Brothers« kann im Kontext kritischer Selbstbefragungen gesehen werden, die wie John Fords »Cheyenne Autumn« (1964), Arthur Penns »Little Big Man« (1970) oder Robert Altmans »Buffalo Bill and the Indians« darum bemüht sind, den Schleier aus Mythen wegzuziehen und die dahinter liegende historische Realität in den Blick zu nehmen. Das wäre im vorliegenden Fall das Trauma des gewalttätigen Vaters, dem die Sisters Brothers ausgesetzt waren und das sie unterwegs in endlosen brüderlichen Kabbeleien – die wie präpsychoanalytische Therapiesitzungen auf Pferderücken wirken – weniger bewältigen als vielmehr auf aushaltbarer Distanz halten. So lange, bis der sozialutopische Impuls, der von den anderen beiden Quasselstrippen ausgeht, diese Verdrängungsstrategie obsolet macht und nach einer endgültigen Lösung verlangt. Sie fällt überraschend aus, leuchtet aber ungemein ein

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