Kritik zu The Whale

englisch © A24

2022
Original-Titel: 
The Whale
Filmstart in Deutschland: 
27.04.2023
L: 
117 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Es gibt viele Gründe, diesem Film zu misstrauen. Ist er voyeuristisch oder doch einfühlsam? Ist das Leiden seiner übergewichtigen Hauptfigur ein bloßer Spezialeffekt, gleichsam ein doppelter Oscarköder? Fangen die Probleme nicht schon beim Titel an, der sich durchaus als Mobbing lesen lässt? Darren Aronofsky eröffnet mehr als einen Zwiespalt

Bewertung: 3
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Wenn er so weitermacht, warnt ihn seine Freundin Liz, wird er das Wochenende nicht mehr erleben. Charlie wiegt fast dreihundert Kilo, sein Herz kann diese Last nicht mehr bewältigen. Sein Blutdruck ist so hoch, dass er unverzüglich ins Krankenhaus gehört. Als Krankenschwester kann Liz das einschätzen. Aber sie weiß auch, das Charlie sterben will.

Bis zum Wochenende zählt der Film nun die Tage ab, in denen Charlie ein letztes, enormes Pensum abarbeiten muss. Am Mittwoch erwartet er, der Literaturdozent, die Essays seiner Studenten, denen er seinen Anblick während ihrer Zoom-Konferenzen stets ersparte. Der Freitag wird im Zeichen unwiderruflicher Ehrlichkeit stehen. Bis dahin will er die offenen Rechnungen in seinem Leben begleichen. Vor neun Jahren verließ er seine Frau und seine Tochter, weil er sich in einen Studenten verliebte. Den Riss, der durch ihr Leben ging, haben sie ihm nie verziehen. Er selbst konnte es auch nicht.

Charlie ist adipös – aus Trauer. Seine Fressattacken sollen die Leere füllen, die er seit dem Selbstmord seines Lebensgefährten Alan in sich spürt. Sie sind eine Droge, die den Schmerz lindern und immer neuen Schmerz gebären. Also eine Buße, die Charlie sich auferlegt. Er will den Suizid des Geliebten wiederholen: ein Märtyrer in eigener Sache.

Darren Aronofsky zögert, wie er sich dieser Figur annähern soll. Er tut es zunächst in einem mulmig austarierten Rhythmus von Zeigen und Verbergen. Erscheint ihm Charlie wirklich monströs? Der Regisseur, der nicht anders kann, als seine Figuren auf einen Kreuzweg zu schicken, wollte das Bühnenstück von Samuel D. Hunter seit zehn Jahren verfilmen. In seinem Glauben an Metapher und Allegorie kommt es dem Regisseur entgegen. Er scheut das Pathos nicht. Aber kurz bevor es höchste Zeit wird, hört »The Whale« auf, ein Gimmick-Film zu sein. Das ist nicht nur eine Frage der Gewöhnung, sondern eines achtsamer gewordenen Blicks. Die großen traurigen Augen von Brendan Fraser werden mit einem Mal so beredt wie seine warme, mittlerweile sonorere Stimme.

Nach dem Auftakt, einer Landschafts­totalen, verlässt »The Whale« Charlies Wohnung nur noch, um zurückzublenden zu einer Strandszene, die skizziert, was in seinem Leben verloren ging. Der Film richtet sich an diesem Schauplatz mit einer erstaunlichen formalen Heiterkeit ein. Er wirkt nicht mehr klaustrophobisch. Das klassische Normalformat sollte eigentlich Enge herstellen, aber das misslingt zum Glück. Charlie pariert seine Leibesfülle mit einer Reihe alltäglicher Hilfsmittel; er ist zu Selbstironie fähig. Der Eremit führt ein offenes Haus: Er bekommt viel Besuch. Liz (Hong Chau hält eine großartige Balance zwischen Verzweiflung und Treue) sucht ihn täglich vor Beginn ihrer Schicht auf. Missionar Thomas klingelt mehrfach und will Charlies Seele retten.  Von Liz wird er rabiat in die Schranken gewiesen. Alan gehörte derselben Sekte an; sie macht sie für dessen Tod verantwortlich.

Als Charlies zornige Tochter Ellie auftaucht, erwacht »The Whale« endgültig zu filmischem Leben. Sadie Sink trägt die Energie der Angriffslust in den Erzählfluss hinein. Ihre Schroffheit ist einnehmend. Sie fordert väterliche Liebe und stößt sie brüsk zurück. Was wäre, wenn sie der Wal ist? Der Essay, den sie in der Schule über »Moby Dick« schrieb, steckt voll trotziger Erkenntnis. Er ist der Strohhalm, an dem Charlie ihre Beziehung festhalten will. Später bringt Liz Charlies Exfrau Mary (Samantha Morton) mit, die seit der Trennung trunksüchtig ist. Ihre Verbitterung weicht einer sachten Zärtlichkeit, als sie sich an Charlie lehnt, um seinen Herzschlag abzuhören. Es wird eine kurze Umarmung, eine erste Etüde der Katharsis. Lässt sich irgendeines dieser Leben noch reparieren? »The Whale« erzählt von lauter Gestrandeten. Das heißt, sie wurden an einen Ort gespült, an dem womöglich noch ein Rest von Hoffnung existiert.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt