Kritik zu Orlando, meine politische Biografie

© Salzgeber

Ein Chor von Stimmen, die bis vor kurzem kaum Gehör fanden: Paul B. Preciado entwickelt in seinem Essayfilm eine polyphone Utopie des Nichtbinären

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»Orlando, wo bist du?« steht auf den Plakaten, die Paul B. Preciado nachts an Hauswände klebt. Dazu erzählt der spanische Queer-Theoretiker, wie er auf die Frage, warum er nicht seine Biografie schreibe, geantwortet habe: »Weil die verfluchte Virginia Woolf meine Biografie schrieb, bereits 1928.« 

Woolfs Roman folgt einem jungen Mann durch die Jahrhunderte, am Ende ist der Protagonist eine Frau. Damit trifft das Buch, fast ein Jahrhundert nach Erscheinen, einen Nerv in den Genderdebatten der Gegenwart, es gilt als queerer Schlüsseltext. Für den 53-jährigen Preciado, selbst trans und mit Büchern wie dem »Kontrasexuellen Manifest«, »Testo Junkie« und »Ein Apartment auf dem Uranus« Vordenker des Diskurses, ist Woolfs Werk auch persönlich wegweisend, wie er nun in »Orlando, meine politische Biografie« erklärt. Seine erste Arbeit hinter der Kamera ist eine Art »filmischer Brief« an die 1941 aus dem Leben geschiedene Schriftstellerin, in der nicht nur Preciado selbst zu Wort kommt, sondern eine ganze Reihe diverser Menschen zwischen acht und siebzig Jahren Woolf zitiert und über Genderkonstrukte, ihr Selbstverständnis und ihre Transition spricht.

Preciado selbst definiert sich als Dissident, weil er die binäre Geschlechterordnung ablehnt. Seine Auseinandersetzung mit dem Roman und seiner Bedeutung ist kollektiv und politisch, weniger Dokumentar- denn hybrider Essayfilm. Das ist nie trocken akademisch, sondern geradezu verspielt und ebenso fluide wie sein Gegenstand, zugleich autobiografische Erzählung und Manifest, Interviewfilm und burleskes Theater. Er lässt seine Trans- und nonbinären Protagonist*innen als Orlando auftreten, zum Erkennungsmerkmal wird dabei eine weiße Halskrause, die alle tragen. Auf jedes weitere historische oder fiktive Kostüm wird verzichtet. Stattdessen wird Make-up aufgetragen, eine Geste, die das Performative äußerer Erscheinungen zur Schau stellt. Dabei nutzt der Film mit einem bemerkenswerten Effekt die Tonspur, indem er dieselben Zeilen zum Teil von mehreren Personen sagen lässt und ihre Stimmen übereinanderlagt. So entsteht für Momente eine Art poetischer Chor von Stimmen, die bis vor kurzem noch kaum Gehör fanden.

Preciado besetzt Wegbegleiter und Vorbilder wie die in Berlin lebende Videokünstlerin Liz Rosenfeld als de Sade. Eine Nebenrolle spielt der aus der Arte-Serie »In Therapie« bekannte Frédéric Pierrot als Psychiater, der in seiner Praxis kein Verständnis für die nonbinäre Selbstdefinition seines Gegenübers zeigt. Und am Ende tagt das Gericht. Es ist das Jahr 2028, hundert Jahre nach »Orlando«, und Virginie Despentes, die französische Bestsellerautorin (»Das Leben des Vernon Subutex«) und Exfreundin von Preciado vor dessen Transition, verleiht als Richterin an die versammelten Orlandos »planetarische, nichtbinäre Staatsbürgerschaften«. Eine Utopie, camp, queer und dissident im allerbesten Sinne, die auf der Berlinale völlig zu Recht mit dem Teddy Award und dem Spezialpreis der Encounters-Jury ausgezeichnet wurde.

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