Kritik zu Nathalie – Überwindung der Grenzen

© W-film

2022
Original-Titel: 
Nathalie – Überwindung der Grenzen
Filmstart in Deutschland: 
30.05.2024
V: 
L: 
84 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Die tragikomische Mutter-Sohn-Geschichte legt ironisch den Finger in die Wunde des Umgangs von EU-Bürokratie, Politik und Medien mit Migration 

Bewertung: 3
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Als wir Albert das erste Mal begegnen, schreit er gerade eine Urlauberfamilie an, die vor dem Zaun eines Geflüchtetenlagers in Sizilien für Selfies posiert. Wütend verscheucht er sie und brüllt, Menschen in Not als Kulisse zu missbrauchen sei das Allerletzte. 

Albert (Théodore Pellerin) ist im Auftrag einer NGO vor Ort und begegnet dort zufällig seiner Mutter Nathalie (Isabelle Carré), die für die EU arbeitet und einen hohen Staatsbesuch von Angela Merkel und Emmanuel Macron im Lager organisieren soll. Ihr Verhältnis ist zerrüttet. Zum einen, weil Nathalie ihren Mann und Albert verließ, als dieser noch ein Kind war. Zum anderen weil sie für die EU arbeitet, die er als Institution bürokratischer Heuchlei verachtet. In diese stressige Situation platzt auch noch Nathalies Ex-Geliebte (Ursina Lardi), die sich als PR-Expertin der deutschen Bundeskanzlerin ständig mit ihrem für Macron zuständigen Pendant streitet. Von dieser Konstellation nimmt die Geschichte einige Abzweigungen, bevor sie Mutter und Sohn auf einem bizarren Roadtrip zusammenführt. 

Alberts eingangs geschilderter Vorwurf an die fotografierende Familie ließe sich auch an den Film richten. Denn inszeniert Regisseur Lionel Baier nicht auch eine leichte Sommerkomödie vor der Kulisse eines Geflüchtetenlagers? Die Verknüpfung der Migrationsthematik mit einer tragikomischen Beziehungsgeschichte ist eine heikle Gratwanderung, die aber hier gelingt. 

Denn Baier, der seit 2014 am Drehbuch geschrieben und im Verlauf seiner Recherche unter anderem Moria in Griechenland besucht hat, gibt die Geflüchteten nie der Lächerlichkeit preis. Seine Kritik, eher fein ironisch als mit beißender Schärfe gewürzt, trifft dafür alle anderen. Politik, PR-Agent*innen und Medien, die mit tragischen Schicksalen Quote machen, kriegen ihr Fett weg. Auch die Freiwilligen der NGOs, die hier einerseits paternalistisch, andererseits wie eine randalierende Horde auftreten, die humanitäres Engagement mit einer Klassenfahrt verwechseln, schont er nicht. 

Auch wenn das Elend und der Tod bei der Flucht über das Mittelmeer nicht ausgespart bleiben, ist »Nathalie« die meiste Zeit eine locker-flockige Beziehungskomödie. Baier sagte in einem Interview dazu, er hätte den Versuch wagen wollen, lustig anstatt verzweifelt zu sein – das ist ihm gelungen. In den besten Momenten ist seine Kritik pointiert und witzig zugleich: Für den Staatsbesuch wird ein Geflüchteter gecastet, der ein Erstaufnahmegespräch simulieren soll. Macrons Berater ist nicht damit zufrieden, wie perfekt der Mann Französisch spricht. Er bittet ihn, gebrochener, zögernder zu sprechen. Der Mann weigert sich und erwidert, er habe schon Marcel Proust aus dem Französischen übersetzt. Kurz darauf korrigiert er den PR-Berater, als der eine falsche Präposition verwendet. 

In seiner herrlichen Polyglotterie – im Film wird zwischen Französisch, Englisch und Italienisch gewechselt – erinnert »Nathalie« auch daran, wie wunderbar die Idee einer europäischen, gar globalen Gemeinschaft im Grunde ist.

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