Kritik zu The Holdovers

© Universal Pictures

2023
Original-Titel: 
The Holdovers
Filmstart in Deutschland: 
25.01.2024
L: 
133 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Alexander Paynes neuer Film ist einerseits eine melancholische ­Feiertagskomödie, andererseits eine präzis beobachtete Gesellschaftsanalyse – mit einem großartigen Darstellertrio im Zentrum

Bewertung: 4
Leserbewertung
4
4 (Stimmen: 1)

Die Revolution bleibt aus. Daran kann im Dezember 1970 kein Zweifel mehr bestehen. Die Aufbrüche der 60er Jahre sind gescheitert. Die Attentate auf Martin Luther King und ­Robert Kennedy haben den Glauben an einen Wandel ohne Gewalt zerstört. Richard Nixons Wahl zum Präsidenten im November 1968 war dann ein deutliches Signal der sogenannten gesellschaftlichen Mitte, dass sie größere, gar radikale Veränderungen nicht mittragen würde.

Nur zwei Jahre später herrscht ein recht seltsamer und verstörender Stillstand in den USA. Im Dschungel von Vietnam sterben weiter die Söhne all derer, die sich teure Colleges nicht leisten können und keine Macht haben, ihre Kinder der Maschinerie des Krieges zu entziehen. Währenddessen geht das Leben weiter, als sehnte sich die breite Masse zurück in die 1950er Jahre. Es ist ein bleiernes und offensichtlich falsches Leben, in das sich so viele flüchten, aber ein anderes, besseres ist nicht in Sicht. Auch nicht an der Barton Academy, einem exklusiven Internat in Neuengland.

»The Holdovers«, Alexander Paynes tragikomische Reise zurück in diese von Erstarrung geprägte Vergangenheit, beginnt als filmisches Fotoalbum. Weitgehend starre Einstellungen, meist in der Totale, eta­blieren die elitäre Privatschule, an der nur männliche Jugendliche unterrichtet werden, als aus der Zeit und der Welt gefallenen Ort. Der Campus liegt unter einer dicken Schneedecke, und trotz des grauen Himmels strahlt das imposante Schulgebäude ebenso wie die Landschaft, die es dominiert, eine malerische Einsamkeit aus. Es ist ein durch und durch amerikanischer Ort, den Payne und sein Kameramann Eigil Bryld in Bildern wie aus einem Hollywoodfilm der frühen 70er Jahre in Szene setzen. Die Gedanken wandern sofort zu Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman.

Aber es ist längst nicht nur die spezielle amerikanische Naturromantik, die hier einen sehr konkreten Ausdruck findet. Zugleich erscheint der von grauem Stein und weißem Schnee beherrschte Ort wie das Inbild einer von vererbten Privilegien bestimmten Gesellschaft. In der Barton Academy werden die Söhne der Reichen und Einflussreichen auf das College und auf ihr späteres Leben vorbereitet. Was erst einmal heißt: Sie lernen, welche Türen ihnen ihre Geburt und die daran geknüpften Vorrechte öffnen. Allerdings gibt es einen Lehrer, der an dem Fundament der Schule zumindest ein wenig kratzt. Paul Hunham (Paul Giamatti) unterrichtet Geschichte des Altertums und geht auf Konfrontation mit seinen Schülern.

Hunham liebt es, seine Überlegenheit zu demonstrieren. Klassen­arbeiten und Prüfungen benotet er mit einer fast schon an Sadismus grenzenden Strenge. Und sobald einer oder mehrere Schüler gegen seine Methoden protestieren, reagiert er mit schneidendem Sarkasmus. Dass die meisten von ihnen ihn hassen, ist ihm gerade recht. Schließlich hasst er diese angehende US-amerikanische Elite, die sich ihrer Ausnahmestellung so gewiss ist, aus tiefstem Herzen. Zuletzt ist dieser ver­bitterte, in selbst gewählter Einsamkeit lebende Lehrer allerdings einen Schritt zu weit gegangen. Er hat den Sohn eines mächtigen Senators durchfallen lassen und ihm damit den Zugang zu einem Ivy League ­College erschwert. Nun wird er vom Rektor zur Strafe dazu verdonnert, während der Weihnachtsferien die Schüler zu beaufsichtigen, die das Internat nicht verlassen können.

So bleibt Hunham allein mit fünf Schülern und der Schulköchin Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph) in den kaum geheizten Räumen der Barton Academy zurück. Wärme verspricht in diesen Tagen höchstens der Bourbon, den Hunham sich schon morgens in seinen Kaffee schüttet. Aber nicht nur er, auch Mary Lamb, die ihren Sohn im Krieg in Vietnam verloren hat, flüchtet in den Alkohol. Whiskey und Wiederholungen der Fernseh-Spielshow »The Newlywed Game« helfen ihr, den Schmerz über den Verlust ihres Sohnes, der aufgrund eines Stipendiums seinen Abschluss in Barton gemacht hat, für Momente zu betäuben. Nur Angus Tully (Dominic Sessa) bleibt jeder Trost versagt. Als die übrigen Schüler durch einen glücklichen Zufall zum Skifahren abgeholt werden, bleibt er als Einziger zurück, der dem Internat über die Feiertage nicht entfliehen kann und nun irgendwie mit seiner ganz eigenen Trauer um seinen Vater zurechtkommen muss.

Natürlich folgen David Hemingsons Drehbuch und Alexander Paynes Inszenierung den Konventionen bittersüßer Weihnachtsgeschichten. Und natürlich werden sich Paul Hunham, Angus Tully und Mary Lamb im Lauf der Weihnachtsferien näherkommen. Vor allem die gegenseitige Abneigung zwischen dem brillanten, aber aufsässigen Schüler und dem zynischen Lehrer wird nach und nach einer komplexen Beziehung weichen, die eine große Nähe zwischen zwei Außenseitern offenbart. 

Aber der Weg, den die Figuren auf ihrer Reise zueinander und letztlich auch zu sich selbst nehmen, hält immer wieder Überraschungen bereit. In dieser Hinsicht spielt »The Holdovers« nicht nur um die Jahreswende 1970/71; Paynes Film könnte tatsächlich in dieser Zeit entstanden sein. Das beginnt schon bei den Titelkarten, die denen jener Jahre entsprechen, und setzt sich bei dem zumindest in Teilen verwendeten analogen Filmmaterial fort. Die Bilder haben das leicht angeraut Körnige, das wir aus den Filmen des New Hollywood kennen. Und die vielschichtigen, widersprüchlichen Figuren erinnern deutlich an die Protagonisten aus den Filmen von Bob Rafelson und Hal Ashby.

Diese Annäherung an das US-amerikani­sche Kino der 1970er Jahre verleiht »The Hold­overs« natürlich auch einen nostalgischen Charme. Aber der ist nur eine erlesene Beigabe. Payne schwelgt in (Film-)Erinnerungen, holt das Publikum aber auch immer wieder zurück in die Realität der Jahreswende 2023/24. Denn dieser Blick zurück, der mit Giamattis Lehrer einen Mann ins Zen­trum der Erzählung rückt, der sich mit aller Kraft gegen einen gesellschaftlichen Trend zu einer Geld- und Macht-Aristokratie stellt, ist eigentlich einer auf unsere Zeit. Der Stillstand und die stillschweigende Restauration der 70er Jahre haben den Boden für die heutige Spaltung Amerikas gelegt. Und daran lässt Payne nicht den geringsten Zweifel. Die Schüler, die Hunham vergeblich versucht, in ihre Schranken zu weisen, sitzen heute als Republikaner im Kongress oder führen mächtige Unternehmen.

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