Kritik zu Erde

© Real Fiction Filmverleih

2019
Original-Titel: 
Erde
Filmstart in Deutschland: 
04.07.2019
L: 
115 Min
FSK: 
keine Beschränkung

Verletzliche Hülle: Nikolaus Geyrhalter (»Unser täglich Brot«) widmet sich in seinem neuen Film mit sinnlicher Rundumsicht den materiellen Attacken auf die Oberfläche unseres Planeten durch den Menschen

Bewertung: 4
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60 Millionen Tonnen Ober­flächen­erde werden täglich von Wind, Wasser und Natur bewegt, heißt es – sinngemäß – in einer Texteinblendung zu Beginn des Films. 156 Millionen Tonnen bewegen Menschen selbst. Dahinter ist im Breitwandbild in eine weite, hügelige Landschaft zu sehen. Dann ein Raupenschlepper, der eine harte Schneise in die Landschaft reißt. Der Filmtitel. Und schon bald darauf ist die Kamera bei einer Arbeitsbesprechung zwischen riesigen kahlen Hügeln. Wieder schweres Räumgerät. Und dann nimmt uns der Filmemacher sogar mit in die Führerkabine eines solchen Arbeitsfahrzeugs.

Insgesamt sieben durch eindrucksvolle Luftaufnahmen eingeleitete Stationen solcher von Menschen induzierten Verletzungen der äußeren Erdkruste besucht Geyrhalter für diesen Film und spricht mit denen, die dort arbeiten oder (in einem Fall) leben. Die Motive für diese Eingriffe sind unterschiedlich, auch wenn es oft um die Erzielung von Gewinnen geht. Im kalifornischen San Fernando Valley werden ganze Berge umgeformt, um mehr Bauland für Häuser auf ihnen verkaufen zu können. Am Brenner werden für einen Eisenbahntunnel Millionen Tonnen Gestein aus einem Berg gefräst und automatisiert auf dem Laufband abtransportiert. Im ungarischen Gyöngyös finden die Baggerführer beim Abbau in einer riesigen Braunkohlenhalde Millionen Jahre alte fossilisierte Bäume, die manchmal die Schaufeln in Stücke reißen. Die Erde wehre sich gegen die ihr angetane Gewalt, stellt einer der kalifornischen Arbeiter fest. Doch am Ende werde der Mensch gewinnen, durch den Einsatz immer größerer Maschinen und Dynamit, dessen Effekte Geyrhalter so gegenwärtig in Szene setzt, wie es nur der Film kann.

Andere sind sich nicht so sicher, ob und wie lange der Mensch seinen harschen Umgang mit dem Planeten überlebt. Viele der Ingenieure, Bauarbeiter und Techniker, von denen Geyrhalter sich ihre Tätigkeit erklären lässt, sind sich der schädlichen Auswirkungen ihres Tuns durchaus bewusst. Doch sie sind auch fasziniert von der Begegnung mit den uralten, oft noch nie von Menschenhand berührten Materialien, wie etwa dem Marmor, der in Carrara durch technische Innovationen in immer rasanterem Tempo gebrochen wird. In der Kupfermine von Riotinto in Spanien werden die Ruinen einer antiken Vorgängerin ausgegraben und erinnern an die Vergänglichkeit menschlicher Macht. Und im gigantischen unterirdischen Atommülllager Asse II in Niedersachsen ist der in einem Imagefilm aus den 70er Jahren noch als unmöglich erklärte schwere Störfall längst eingetreten und muss tagtäglich mit viel Aufwand unter Kontrolle gehalten werden. Geyrhalter integriert diesen nicht als einmontierten Clip, sondern filmt ihn von einer im Lager aufgestellten Leinwand ab.

Im kanadischen Fort McKay hatte Geyrhalter keine Drehgenehmigung für den dortigen großflächigen Schieferölabbau bekommen und wendet diese Situation produktiv für eine Coda, in der Vertreter des dort in Alberta ansässigen indigenen Dene-Volkes ihre von Spiritualität geprägte Sicht der Dinge erklären. Sie zeigen dem Filmemacher auch, wie die gleichen Förderfirmen, die für die Zukunft wieder blühende Landschaften auf den ausgeförderten Gruben versprechen, es bisher nicht einmal für nötig hielten, ihre alten Gerätschaften und Gebäuderuinen aus den 40er-Jahren zu entsorgen, die jetzt im Wald vor sich hin rosten.

Stilistisch ist der Film ein klassischer Geyrhalter mit vielen langen statischen Einstellungen, die sich über Luftbild und Totale den Details nähern. Doch er nutzt die von ihm selbst geführte Kamera auch immer wieder zum bewegten Einsatz an unzugänglichen Orten wie Tunnelschacht und wacklige Aufzugsanlagen. Und das mit einem Diagonale-Preis ausgezeichnete Sounddesign von Florian Kindlinger macht uns die Gewalt der menschlichen Erdbewegungen unaufdringlich aber eindringlich spürbar. Es heißt oft, dass das 1972 von der Apollo-17-Mission geschossene Blue-Marble-Foto der Erde viel dazu beigetragen habe, unseren Blick für die Verletzlichkeit des Planeten zu sensibilisieren. Geyrhalters Film ist die ergänzende Nahaufnahme seiner täglich wachsenden Verletzungen und Narben im Anthropozän.

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