Kritik zu Die Unschuld

© Wild Bunch

Zum ersten Mal seit fast 30 Jahren hat Hirokazu Kore-eda kein eigenes Drehbuch verfilmt, sondern das eines anderen Autors: Yuji Sakamoto, der prompt im letzten Mai in Cannes für sein kompliziertes Szenario aus­gezeichnet wurde. Es er­möglicht dem Regisseur, einen anderen Blick auf die Themen zu werfen, die ihn seit jeher beschäftigen: die Geheimnisse des Heranwachsens und die ­Familie als Spiegel der Gesellschaft

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Mit einem Feuer fängt es an und hört mit einem Monsunregen auf. Ein Wohnturm steht in Flammen, in dem sich ein anstößiges Etablissement befindet. Die Feuersbrunst wird die Bewohner der japanischen Kleinstadt nachhaltig beschäftigen: War es Brandstiftung? Der tropische Sturm wiederum, der sie am Ende erreicht, erschüttert das Gemeinwesen nicht minder: Wird er Menschenleben kosten?

Es nimmt nicht wunder, dass diese Geschichte, die derart wuchtig von den Elementen gerahmt wird, von essenziellen Problemen handelt. Aber erst einmal sind es Kleinigkeiten, die Fragen aufwerfen. Der verwitweten Saori fällt auf, dass sich ihr Sohn Minato seit einigen Tagen merkwürdig verhält. Ihm fehlt ein Schuh, als er aus der Schule heimkehrt, seine Nase blutet, ein Haarbüschel ist abgeschnitten und in seiner Thermoskanne findet sie Erde. Nachts treibt er sich in einem dunklen Tunnel herum. Als die Mutter ihn zur Rede stellt, erzählt er, sein Lehrer Hori habe ihn beleidigt und er deutet an, misshandelt worden zu sein. Das sind lauter Indizien, noch keine Beweise, aber die Mutter ist in größter Sorge.

Sie verfährt gerade so wie ihr Regisseur, dem kein Detail zu nebensächlich erscheint, um nicht ausgiebig untersucht zu werden. Hirokazu Kore-eda verleiht dem Alltäglichen filmische Dringlichkeit, er gibt dem Publikum Rätsel auf, die mit Beharrlichkeit ergründet werden wollen. Die Sorge um das Kindeswohl zieht sich durch sein Werk. So liegt es nahe, dass er sich auf die Seite der aufgebrachten Mutter schlägt, die von der Schulleitung die Aufklärung der Vorfälle und die Entlassung des Lehrers verlangt. Für einen Moment findet man sich nun in einer bizarren Satire wieder. Die Direktorin ist nicht ansprechbar, seit ihr Enkelkind bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Das Kollegium reagiert unschlüssig, will zunächst abwiegeln, nötigt dann Hori zu einer rituellen Entschuldigung, die weder die Mutter noch das Publikum zufriedenstellt. Es muss mehr dahinterstecken.

»Die Unschuld« stellt die Geschichte, die er erzählt, unter Vorbehalt. Yuji Sakamotos Drehbuch folgt dem Prinzip von Akira Kurosawas »Rashomon« und schildert das gleiche Ereignis sukzessive aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Nach einer Dreiviertelstunde kehrt der Film also zum Ausgangspunkt zurück und wählt nach der Perspektive der Mutter die des Lehrers, der vermutet, dass Minato seinen Schulkameraden Yori drangsaliert, um schließlich im dritten Teil Minatos Sicht zu zeigen. Die Versionen widersprechen sich, aber ergänzen einander auch. Die dritte fungiert als eine Korrektur, die Leerstellen füllt und Missverständnisse aufklärt. 

Dieses Verfahren birgt Risiken. Es kann schwerlich auf erzählerische Manipulationen verzichten, setzt Ellipsen, die der Wahrnehmung regelmäßig Entscheidendes vorenthalten. Sakamotos Drehbuch legt Fährten aus, die sich nur vage mit der eigentlichen dramaturgischen Bewegung verbinden: Wer hat das Feuer in der Hostessenbar gelegt? (Es gibt zahlreiche Verdächtige, aber die Lösung ist dem Film ziemlich gleichgültig.) Hat die Schulleiterin selbst den Tod der Enkeltochter verschuldet, für den ihr Mann nun im Gefängnis sitzt? Überhaupt: Warum wird im Film ständig rückwärts eingeparkt?

Kore-eda, dessen Kino stets auf die erlösende Kraft der Wahrheit drängt, hat sich diesmal also eine ganze Reihe von Hindernissen in den Weg gelegt. Wie wird sich dieser unbestechliche Humanist in dem selbst auferlegten erzählerischen Labyrinth bloß zurechtfinden? Immerhin summieren sich die Unwägbarkeiten und Widersprüche zu einem sozialen Klima der Voreingenommenheit, wo der Weg vom Gerücht zur Anschuldigung beklemmend kurz ist und die Konflikte in atemlosem Tempo eskalieren. 

Die Wirklichkeit ist fragil in diesem Film, zumal seine Hauptfiguren allesamt fehlbesetzt wirken in den Rollen, die ihnen die Gesellschaft zugewiesen hat. Die Mutter fürchtet, ihrer Fürsorgepflicht nicht zu genügen. Die Direktorin geistert wie eine Schlafwandlerin durch ihre Schule und ist außerstande, Verantwortung zu tragen. Der Lehrer ist ein vertrackter Romantiker, der es gut meint, aber kein rechtes Geschick fürs Leben besitzt. Angeblich soll er Stammgast in der Hostessenbar sein, ebenso wie Yoris Vater, ein Alkoholiker, der seinen Sohn mit harter Hand zu einem »richtigen« Mann erziehen will. Der wiederum entspricht, ebenso wie Minato, gar nicht dem Leitbild des »coolen Jungen«, das in ihrer Klasse herrscht.

Die schönste Sorge dieses Filmemachers ist die Öffnung der Verhältnisse. Im letzten Drittel entziffert Kore-eda, was Minato bedrängt. Seine Perspektive setzt er mit lichter, wehmütig zuversichtlicher Gelassenheit in Szene. Sie offenbart die zarte Freundesliebe zweier Fünftklässler, die sich tarnen muss. Ihre Frage »Wer ist das Monster?« ist kein Indiz für ihre Angst voreinander, sondern das Losungswort zu ihrem geheimen Reich. Der Argwohn der Erwachsenen verhinderte bisher den Zutritt zur Welt der Kinder, zu ihren Mysterien, ihrem Glück und ihren Verletzungen. Jetzt kann der Film sie mit sanft konzentriertem Blick erkunden. Am Ende hat sich der tropische Sturm gelegt. Nun klärt alles auf.

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