Kritik zu Die unendliche Erinnerung

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Maite Alberdis Film dokumentiert auf sehr intime Weise die letzten Jahre des an Alzheimer erkrankten chilenischen TV-Journalisten Augusto Góngora

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Das Licht geht an im heimeligen Schlafzimmer, das Bild der Videokamera ist nicht fokussiert. Der Mann im Bett lächelt etwas benommen, sagt: »Hallo. Ich bin Augusto. Augusto Góngora. Und wer bist du?« – »Ich bin die Pauli«, antwortet die Frau. Er reicht ihr die Hand zum Gruß, und sie sagt: »Ich werde dir helfen, dich zu erinnern, wer Augusto Góngora war.« 

Augusto Góngora, der chilenische Fernsehjournalist, ist an Alzheimer erkrankt, die Frau, die an diesem Morgen an seinem Bett sitzt, ist Paulina Urrutia, eine bekannte Schauspielerin, ehemalige Kulturministerin und seine Gattin. Seit vielen Jahren leben sie in diesem Haus zusammen. Nur erinnert sich Augusto daran immer weniger, bisweilen gar nicht. Als er 2014 diagnostiziert wurde, war Augusto 62 Jahre alt. Seit dem Ausbruch der Krankheit kümmert sich »die Pauli« liebevoll um ihren Mann. Zunächst im Privaten, in den letzten Jahren dann begleitet von der Regisseurin Maite Alberdi. Das Vorstellen wiederholt sich auf die eine oder andere Art immer wieder im Film, mal nimmt es Augusto erfreut und offen auf, an schlechteren Tagen zweifelt er ihre Erklärungen an oder weist sie gar brüsk von sich. 

Was passiert mit der Liebe zweier Menschen, mit den gemeinsamen Erinnerungen, mit dem gelebten Alltag, wenn einer langsam verschwindet? Voller Zuneigung und auf Augenhöhe erzählt ihm Paulina von ihrem Leben zusammen und vor allem auch von seinem Leben als Reporter, das er dem widmete, was er selbst mehr und mehr verliert, dem Erinnern. Als Chronist der Pinochet-Verbrechen forderte er mit seinen Sendungen eine kollektive Aufarbeitung der Diktatur, gab den Opfern eine Stimme und entriss die Vergangenheit, die viele begraben wollten, dem Vergessen. Lange nimmt er das schrittweise Verschwinden seines eigenen Gedächtnisses bewusst wahr, auch wie ihm Worte und Namen entgleiten. Gemeinsam mit seiner Frau beschließt er dann, der 1983 geborenen Alberdi zu gestatten, ihren Alltag zu begleiten. Nicht nur um im Großen zu vermitteln, sondern auch um an seinem ganz persönlichen Schicksal teilzuhaben. 

Alberdis Porträt zeigt so Vergangenheitsbewältigung und Gegenwartsherausforderung als zwei Seiten eines Lebens. Dabei lässt sie den Protagonisten viel Freiraum. Während des Corona-Lockdowns konnte Alberdi über lange Zeit nicht vor Ort sein, in dieser Zeit hat Paulina selbst per Video unzählige Momente festgehalten, zu fast jeder Tag- und Nachtzeit. Das erweist sich als Stärke und Schwäche des Films zugleich. Es gelingt zwar ein sehr intimer Einblick in den mühseligen, dabei offenbar stets liebevollen Alltag des Paares, der tief bewegt. Dieser ist aber stark davon geprägt, wie Paulina diese Zeit zeigen möchte. Gegen Ende, wenn immer deutlicher wird, dass Augusto nicht mehr Herr seiner Sinne ist, fragt man sich, ob es in manchen Momenten nicht wohlwollender gewesen wäre, die Kamera auszuschalten. Wenige Monate nach den Premieren in Sundance und Berlin verstarb Góngora mit 71 Jahren.

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