Kritik zu Bones and All

© Warner Bros. Pictures

Er kann es einfach: emotionale Geschichten, vollmundige Bilder. Mit »Bones and All« ist Luca Guadagnino eine bestrickende Mischung aus Roadtrip, Romanze und Gesellschaftsvignette geglückt

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Gibt es eigentlich eine Popkulturgeschichte abgebissener Finger im Kino? Falls ja, müsste mit Luca Guadagninos Romanze »Bones and All« ein neues Kapitel hinzugefügt werden. Man wundert sich zunächst, wieso Maren (einnehmend zurückhaltend: Taylor Russell) von ihrem eigentlich nett wirkenden Vater (André Holland) zum Schlafen in ihrem Zimmer eingesperrt wird, bis, ja bis sich das schüchterne Mädchen für eine Übernachtungsfeier bei einer Schulkameradin he­rausschmuggelt und besagter Gastgeberin, als die ihr den frischen Nagellack zeigen möchte, das Fleisch von den Knochen nagt. 

Das ist einer von nicht wenigen verstörenden Momenten in diesem Film, der im Ansatz an Julia Ducournaus Debüt »Raw« erinnern mag. Dort wie hier brachte ein abgekauter Finger eine Art, wenn man so will, kannibalisches Coming of Age in Gang, in dem es um Fragen zu Identität ging. Aber die Geschichte, die Guadagnino in seinem in den USA gedrehten Film erzählt, ist dennoch eine andere: eine Geschichte über gesellschaftliche Außenseiter im Reagan-Amerika der 1980er Jahre, ein queer angehauchter, »Bonnie und Clyde«-esker Roadtrip mit einer jungen Liebe »to the bones and all«.

Was für Guadagninos wunderbare Serie »We Are Who We Are« um amerikanische Teenager auf Selbstfindungstrip in einem in Italien gelegenen US-Militärstützpunkt galt oder für den zum Evergreen des queeren Kinos avancierten »Call Me by Your Name«, zeichnet auch »Bones and All« aus: Der italienische Regisseur versteht es einfach, mit großer Liebe in die Erfahrungswelten seiner jungen Figuren einzutauchen, ihre Ängste und Hoffnungen in für ihn typische vollmundige Bilder und Musik (Trent Reznor, Atticus Ross) zu kleiden. 

Marens Reise beginnt, als ihr Vater sie verlässt, weil er keine Kraft mehr für den Umgang mit ihrer Fleischeslust hat. Er hinterlässt ein Tape, auf dem er der Tochter von ihrer Menschenfresser-Entwicklung und verschiedenen Vorfällen erzählt. Das Mädchen macht sich auf die Suche nach der Mutter, die sie nie kennengelernt hat, und damit auf eine Reise rund um die Frage: Wie mit ihrer Andersartigkeit umgehen? 

Eine wichtige Erkenntnis ist, dass sie nicht allein ist, dass es noch weitere »Esser« gibt. Etwa den kauzig von Marc Rylance gespielten Sully, ein Freak mit Weste und Hut samt Feder, der das Mädchen über Meilen hinweg erschnüffelt und ihm zeigt, wie er sterbende Menschen ausfindig macht und auf das Unausweichliche wartet, um nicht zu töten. Vor allem aber ist da der Drifter Lee (Timothée Chalamet), Marens Seelengefährte, mit dem es schließlich durch verschiedene Bundesstaaten geht auf der Suche nach sich selbst und der eigenen Vergangenheit. Die Rolle ist Chalamet auf den Leib geschneidert und bekräftigt seinen Ruf als Gesicht einer hybriden neuen Männlichkeit.

Guadagnino adaptiert Camille DeAngelis' gleichnamigen Roman aus dem Jahr 2015 als emotionale Tour de Force, bei der Menschenfresserei und Menschlichkeit enger miteinander verbunden sind, als man es für möglich halten würde. Ohne Scheu auch vor den großen Emotionen, dabei nie kitschig, findet dieser selbstbewusst mit klassischen Motiven des amerikanischen Kinos jonglierende Film einen eigenen Rhythmus. 

Beim diesjährigen Filmfest in Venedig wurde Guadagnino für die beste Regie ausgezeichnet. Die wunderbare Taylor Russell durfte sich über den Marcello-Mastroianni-Preis als beste Nachwuchsschauspielerin freuen. Man ist von der ersten Sekunde an bei ihr, die wie schon in Trey Edward Shults' »Waves« eine Teenagerin im Neuorientierungsmodus gibt. 

Es ist der Idealismus einer Jugend allen Widerständen zum Trotz, von dem Guadagnino nach einem Drehbuch von David Kajganich erzählt, ein Idealismus, dem der Glaube an das Schöne im Hässlichen und an die Bewegung nach vorn inhärent scheint. Wie sich »Bones and All« dabei selbst durch verschiedene Genres bewegt und am Ende ein Bild findet, in dem sich die Liebe und der Tod auf betörend verstörende Weise treffen, ist großes Kino.

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