Kritik zu Auf der Adamant

© Grandfilm

2022
Original-Titel: 
Sur l'Adamant
Filmstart in Deutschland: 
14.09.2023
L: 
109 Min
FSK: 
keine Beschränkung

Nicolas Philibert beobachtet eine schwimmende Tagesklink auf der Seine in Paris, Anlaufstätte und zweites Zuhause für Menschen mit psychischen Krankheiten. Auf der Berlinale 2023 wurde er dafür mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet

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François singt ein Chanson der Postpunkband Téléphone, »La bombe humaine« aus dem Jahr 1979, das wie für ihn geschrieben scheint. »Wenn du dir nehmen lässt, was dich antreibt, ist es aus, die menschliche Bombe bist du, der Zünder ist gleich neben deinem Herzen«. Der hagere Mann singt emphatisch und selbstbewusst, trotz der fehlenden Vorderzähne, steigert sich immer mehr hinein, gibt alles, ein Schreigesang, begleitet nur von einer Akustikgitarre. Am Ende bricht Jubel aus im Aufenthaltsraum der Tagesklinik. Die anderen wissen, was das Lied für den Mann bedeutet, der später von sich sagt, ohne Medikation ständig Streit zu suchen.

Was ist eigentlich »normal«? Und was gilt als psychisch krank? So umstritten diese Einordnungen sind, rückt Nicolas Philiberts Dokumentarfilm »Auf der Adamant« einen antipsychiatrischen Ansatz ins Zentrum, der statt auf Ausgrenzung auf ein Miteinander auf Augenhöhe setzt. Mit Wohlwollen und Geduld hinzusehen und zuzuhören statt wegzuschauen. Gleich der Beginn ermahnt daran, nicht die Lücken zu vergessen. »Wohin sollten die Bilder, wenn es keine Lücken gibt? Wie sollten sie sonst reinkommen?« Das Zitat des französischen Sozialpsychologen Fernand Deligny ist dieser Langzeitbeobachtung vorangestellt, die im Februar auf der Berlinale den Goldenen Bären erhielt. Es war damit erst der zweite Dokumentarfilm, der mit den Hauptpreis des Festivals ausgezeichnet wurde, nach Gianfranco Rosi für »Seefeuer« 2016.

Im Zentrum steht die Adamant, ein Hausboot auf der Seine, das Tagesstätte für Menschen mit psychischen Problemen ist. Das Angebot ist niedrigschwellig, die Menschen sind freiwillig hier, manche kommen jeden Tag, die meisten schauen regelmäßig vorbei. Hier belegen sie Workshops und Tanzkurse, lernen zu nähen und zu malen. Bringen sich in die Organisation ein, tauschen sich untereinander aus. 

Der Film folgt dem Alltag dieser schwimmenden Einrichtung, der gemächliche Rhythmus des Films ist durch Rituale und Gespräche strukturiert, die er in langen Einstellungen festhält. Das Porträt eines Refugiums mitten in der Metropole Paris und zugleich abseits deren Geschäftigkeit. Morgens öffnet eine Mitarbeiterin die elektrischen Lamellen der Bootsfenster, das Schiff gleicht einem insektenartigen Alien, das langsam erwacht, einem Bienenstock, in dem nach und nach die Menschen eintrudeln. Die Patient*innen sind in die Abläufe eingebunden, bei der Tagesordnung der wöchentlichen Versammlung etwa. Die wird sofort über den Haufen geworfen, weil Muriel, die neben der Mitarbeiterin des Pflegeteams sitzt, sofort den Namen des Neuankömmlings wissen will. 

Philibert lässt sich Zeit, gibt den Einzelnen und ihren Geschichten Raum, fast zwei Stunden lang begleitet der Film sie und hört ihnen zu, einfühlsam und auf Augenhöhe, nimmt sie ernst. Einige von ihnen reden offen über sich und ihre Verfassung, sie werden einem in dieser Zeit sehr vertraut.

Viele zeigen verborgene Talente, entpuppen sich im geschützten Rahmen als wahre Künstler. Vor allem Musik erweist sich immer wieder als kreatives Ventil, bei François und seinem Anarchosong, bei Frédéric, der poetische Lieder komponiert, oder Nadya, die mit Inbrunst die bulgarische Nationalhymne intoniert. Einen guten Sinn für Humor haben ohnehin fast alle. So ergibt sich langsam das Bild einer inklusiven Institution, die psychisch Kranken auf Augenhöhe begegnet, sie nicht ausgrenzt oder wegsperrt, sondern integriert, sie fördert und fordert, Hilfe zur Selbsthilfe bietet.

So sehr der Film einen ganz spezifischen Ort porträtiert, kommt man doch kaum umhin, ihn nicht auch als Kommentar zu sehen auf die Gesellschaft als Ganzes und ihren Umgang mit den Schwächeren und Marginalisierten. Bzw. als utopischen Gegenentwurf dazu. Denn ein anderes, zugewandteres Zusammenleben wäre möglich, auch abseits der Adamant.

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