Cannes: Die Kunst des Ausblendens

»Anatomie d'une chute« (2023). © Les Films Pelléas

Auf die Wahrung der Form legt man beim Filmfestival in Cannes stets besonderen Wert. Einerseits verlas zur Eröffnung der 76. Ausgabe Catherine Deneuve als Solidaritätsbekundung das Gedicht einer jungen Ukrainerin, andererseits aber galt rund um den Festivalpalast herum eine strenge Bannmeile für politische Proteste. Sowohl die ukrainische Influencerin Ilona Chernobai, die sich auf dem Roten Teppich mit Filmblut übergoss, als auch das Model Alina Baikova, die Tage später am selben Ort ein T-Shirt mit Putin-Beschimpfung entblößte, wurden deshalb schnellstens von der Security abgeführt.

Interessanterweise geht es in dem Film, der die Goldene Palme bekam, auch um das Thema Fassade-Wahren. In »Anatomie d'une chute« der Französin Justine Triet verkörpert die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller eine erfolgreiche Autorin, deren Mann eines Tages tot vor dem Chalet der Familie gefunden wird. War es Selbstmord oder hat jemand beim seinem Sturz aus dem Fenster nachgeholfen? Als man die Tonbandaufnahme eines heftigen Streits vom Vorabend findet, wird Sandra wegen Totschlags angeklagt.

Mit den Mitteln des Gerichtsfilms erkundet Triet in ihrem Film sehr viel mehr als nur die Tat und ihre Hintergründe. Es geht um Selbst- und Fremdwahrnehmung, und es geht um die Widersprüche einer modernen Beziehung. Hüller spielt diese Sandra mit atemberaubenden Naturalismus als selbstbewusste, eckige Person, die an der Wahrheit einer Ehe festhält, die allen Kränkungen und Ressentiments zum Trotz funktioniert haben mag.

Die Goldenen Palme für »Anatomie d'une chute« markiert einen weiteren Erfolg auf dem Feld der Gleichberechtigung, nachdem in den letzten Jahren die Kritik an einer Einladungspolitik, die selten mehr als drei Frauen gegen einen Überhang von männlichen Regisseuren im Wettbewerb antreten ließ, immer schärfer geworden war. Mit sieben Regisseurinnen unter insgesamt 21 war dieses Jahr immerhin ein neuer Rekord erreicht worden. Triet ist erst die dritte Regisseurin, die in der langen Geschichte des Festivals die Goldene Palme erhält.

Das Reglement von Cannes verbietet die Mehrfachauszeichnung, sonst wäre Sandra Hüller sicher auch als beste Schauspielerin gewürdigt worden. Statt dessen ging die Auszeichnung an die Türkin Merve Dizdar, die in Nuri Bilge Ceylans Provinzdrama »About Dry Grasses« eine Lehrerin, die bei einem Attentat verletzt wurde, verkörpert. Auch Dizdars Figur ist eine weibliche Rolle, wie man sie selten im Kino sieht: Komplex und eigenwillig bildet sie in Ceylans Film einen essentiellen Kontrapunkt zur männlich dominanten Perspektive.

Auch ohne eigene Auszeichnung galt Sandra Hüller als die herausragende Darstellerin dieser Festivalausgabe, spielte sie doch auch noch die Hauptrolle im Palmen-Favoriten »The Zone of Interest«, dem Auschwitz-Drama des Briten Jonathan Glazer. Die Jury unter Vorsitz des Preisträgers vom Vorjahr, Ruben Östlund, zeichnete Glazers Film zwar »nur« mit dem Großen Preis der Jury aus, der Silbermedaille des Festivals. Für viele aber galt »The Zone of Interest« als das zentrale Meisterwerk dieses Jahrgangs.

Mit kalter Präzision seziert Glazer die oft banalisierte These von der Alltäglichkeit des Bösen: Da ist die Ehefrau des KZ-Kommandanten, die gleich hinter der Mauer ihr Gärtchen pflegt. Da ist der Familienvater, der tagsüber den Genozid organisiert und abends seinen Kindern vor dem Schlafengehen vorliest. Ihre Fähigkeit zur Ausblendung der Verbrechen, für die sie mitverantwortlich sind, hat unheimliche, ja monströse Ausmaße. Mit seiner außergewöhnlichen und strengen Form, vom Holocaust zu erzählen, ohne ihn je ins Bild zu setzen, geht Glazers Film auf unbequeme Weise unter die Haut.

Wie als Kontrastprogramm dazu ging der Preis für den besten Regisseur an einen regelrechten Wohlfühlfilm, an den Franco-Vietnamesen Tran Anh Hùng, der in »La passion de Dodin Bouffant« zwei Stunden lang in ausgesprochen appetitanregenden Bildern die französische Küche feiert. Ein Film, der das Wohlgefühl sowohl pflegt als auch hinterfragt, ist auch Wim Wenders »Perfect Days«, einer der zwei großen Comebacks dieses Jahr in Cannes. Das Kompliment, seinen besten Spielfilm seit Jahrzehnten gemacht zu haben, verdankt Wenders in nicht geringem Maß seinem Hauptdarsteller, dem Japaner Kōji Yakusho, der als bester männlicher Schauspieler ausgezeichnet wurde. Kōji verkörpert einen Toilettenputzer, dessen stark ritualisierter Alltag sowohl von Einsamkeit als auch von Selbstgenügsamkeit geprägt ist.

Das zweite erfolgreiche Comeback des Festivals gelang dem Finnen Aki Kaurismäki, dessen neuer Film »Fallen Leaves« den Jury-Preis erhielt. In der Geschichte um einen Mann und eine Frau, die am unteren Rand der Gesellschaft um ihre Existenz und ihre Liebe ringen, schließt Kaurismäki in einer mit Filmzitaten gespickten Erzählweise und viel trockenem Witz an seine frühen Filme aus den neunziger Jahren an. Wenn man so will, ist ein solches Selbstplagiat auch nur eine weitere Art, die Form zu wahren.

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