Ein guter Jahrgang, dem es an Glanz mangelt

Cannes Film Festival 2018
»Burning« (Beoning, 2018)

An Vielfalt herrschte kein Mangel: Filme, die mit mehrminütigen Jubel-Ovationen begrüßt wurden und Filme, denen scharenweise das Publikum davonlief. Solche, über die heftig gestritten wurde und solche, die völlig kalt ließen. Und es gab den neuesten Film von Lars von Trier, der mit seinen ausführlichen Gewaltszenen doch noch echte Erschütterungen auslöste bei einem Festival-Publikum, das von sich denkt schon alles gesehen zu haben. Es lief also eigentlich alles gut auf diesem 71. Filmfestival in Cannes, dem so viele eine Krise nachsagen. Was deutlich wurde am Ende dieser Ausgabe: An der Qualität der Filme liegt es nicht.

Das von Festivaldirektor Thierry Frémaux eingegangene Risiko, den Wettbewerb mit seinen etablierten »Stammgästen« für mehr Newcomer zu öffnen, zahlte sich voll und ganz aus. Die zehn Regisseure und Regisseurinnen, die zum ersten Mal am Rennen um die Goldene Palme beteiligt waren, zeigten sich mehr als würdig. Nur eine, die Französin Eva Husson, wurde für ihr kurdischen Frauen-Kriegsfilm »Girls of the Sun« von der Kritik verrissen. Das Publikum aber liebte das weibliche Pathos um ihre Rachekämpferinnen fast umso mehr. Skeptisch fielen die Reaktionen auf David Robert Mitchells »Under the Silver Lake« aus. Als Wettbewerbs-Erstling musste Mitchell dazu noch den besonderen Erwartungen standhalten, die damit einhergehen, einer von nur zwei amerikanischen Beiträgen in diesem Jahr zu sein und mit Andrew Garfield einen der wenigen Weltstars in der Auswahl zu zeigen. Das surreale Los Angeles-Mystery-Thriller irgendwo zwischen Patricia Highsmith und psychedelischem Wirrwarr wäre im anderen Kontext vielleicht gnädiger aufegnommen worden.

Gleich mehrere der Neulinge brachten es jedoch zum Status des Palmen-Favoriten: Der Pole Pawel Pawlikowski verzauberte Publikum und Kritik mit seiner schicksalshaften 50er-Jahre-Liebesgeschichte zwischen zwei Musikern auf wechselnden Seiten des Eisernen Vorhangs »Cold War«. Der Russe Kirill Serebrennikov, der selbst nicht anreisen durfte, weil er in Moskau unter Hausarrest steht, setzte in seinem wunderbar atmosphärischen »Leto« (»Summer«) ganz ähnliche emotionale Töne. Der Film erzählt von legendären Gestalten der Leningrader Rockmusik-Szene zu Beginn der 1980er Jahre und Serebrennikov gelingt es in einer sehr intimen Dreiecksgeschichte die tragischen Folgen der sowjetischen Zensur aufzuzeigen.

Zu den noch größeren Favoriten zählen am Schluss jedoch wieder die Regie-Veteranen des Weltautorenkinos: Der Koreaner Lee Chang-dong erhielt für mit seinen von Haruki Murakami inspirierten »Burning« das meiste Kritiker-Lob. Seine geheimnisvolle Romanze zwischen einem bescheiden-schüchternen Möchtegern-Schriftsteller, seiner quirligen alten Schulfreundin und deren reichem Verehrer entwickelt Lee meisterhaft zu einem Thriller voller Zwischentöne, in denen sowohl Wirtschaftskrise, wie die historische Spaltung des Landes als auch seine Klassen- und Geschlechtergegensätze vorkommen. Und das alles mit Hitchcock-gleicher Spannung. Wie überhaupt das asiatische Kino sich in großer Form präsentierte: der Chinese Jia Zhangke lieferte mit »Ash is the purest white« eine einschlagend präzise Betrachtung der turbulenten kapitalistischen Entwicklung Chinas aus der Perspektive einer »Geschichtsverliererin« betrachtet. Der japanische Altmeister Hirokazu Kore-eda engt wie schon oft seinen Fokus auf eine einzige Familie ein, stellt in »Shoplifters« aber verblüffend komplizierte Fragen danach, was eigentlich Familie ausmacht.

Selbst das Frauenproblem scheint Cannes in diesem Jahr bewältigt zu haben: Zwar waren unter 21 Filmen wieder nur drei aus weiblicher Hand, aber zwei davon stiegen prompt zu Top-Palmen-Favoriten auf. Alice Rohrwacher aus Italien traf mit »Happy as Lazaro« den Ton zwischen Märchen und Neorealismus so genau, dass man beides in ihrer Fabel um eine Schar abgelegene Dorfbewohner und ihrer Befreiung aus moderner Sklaverei als wahres Wunder erlebte. Ein Film, der mit jeder Szene überraschte und verführte. Nadine Labakis »Capernaum« spielt auf vertrauteren Registern und folgt einem ungeheuer fotogenen 12-Jährigen durch die Slums von Beirut auf der Suche nach einem Ausweg aus seinem Elend. Hochemotional, aber in seiner Armuts-Romantik auch ein Stück vorhersehbar, werden Labaki jetzt schon Chancen auf den Auslands-Oscar ausgesprochen.

Mit Ulrich Köhlers »In My Room« feierte in den letzten Tagen der einzige deutsche Beitrag in der Nebensektion »Un certain regard« Premiere. Hans Löw spielt darin einen träge durchs sein Leben stolpernden Kameramann, der eines Morgens aufwacht und feststellen muss, dass der Rest der Menschheit spurlos verschwunden ist. Nach einigen Verzweiflungstaten findet er in ein bequemes, einsames Bauernleben hinein, bis eines Tages eine Frau auftaucht. Köhler will alles andere als einer der »üblichen« Postapokalypse-Erzählungen wiedergeben, in der konsequenten Verweigerung der Genreelemente aber reduziert er seinen Film allzu schnell auf eine etwas öde Beziehungsgeschichte.

Doch all die vielen mehr und die wenigen weniger guten Filme täuschen nicht darüber hinweg, dass es dem Festival in diesem Jahr entschieden an Star-Power fehlte. Die angenehme Folge, das weniger Gedränge herrschte, wird sich über längere Sicht als strukturelles Problem erweisen, das schwer am Prestige des Festivals zu nagen beginnt. Seinen Status als »wichtigstes Festival der Welt« wird Cannes nur behaupten können, wenn die verbindung gelingt von guten Filmen und glamourösen Stars, von Autorenkino und dem Besten aus Hollywood. 

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»Selbst das Frauenproblem scheint Cannes in diesem Jahr bewältigt zu haben.«

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