Viel Lärm, viel Stille

... spalten das Publikum
»Youth« (2015)

Aufregung ist die eigentliche Währung eines Festivals. Auf dieser Skala lässt Cannes alle seine Konkurrenten schon von Tag Eins an weit hinter sich. Nirgendwo ist die Aufregung bereits als Basiswert größer und dann reicht es im Grunde schon, wenn ein Film einmal statt nur Applaus wenigstens auch ein par Buh-Rufe ernet. Voilà, schon hat das Festival seine Kontroverse. Buhs und Bravos gab es bei Paolo Sorrentinos »Youth«, aber die Rhapsodie des Italieners über Alter und Tod deshalb kontrovers zu nennen, wäre übertrieben. Mit »Youth« kehrt Sorrentino wieder ganz zu seinem Werbe-Clip-Stil zurück, in der jede Einstellung sich als Opern-Arie entfaltet und meist mit einer Pointe verpufft. Manchmal ist das unterhaltsam, manchmal,sogar berührend, aber immer öfter auch schlicht ermüdend. Michael Caine und Harvey Keitel spielen das, was sie sind, eitle alte Männer, die sich um den Zustand ihrer Prostata sorgen und wenn sie schönen jungen Frauen hinterherschauen, statt Lust bereits auch Schmerz empfinden - über das, was nicht mehr geht. Wie oft bei Sorrentino wäre weniger mehr gewesen: der Film spielt in einer Art Zauberberg-Sanatorium für Celebrities, Paul Dano gibt einen Schauspiel-Star, der sich hier auf eine neue Rolle vorbereiten will und - natürlich!- davon gekränkt ist, stets nur auf seine berühmeteste Blockbusterheldenrolle angesprochen zu werden. Und dann gibt es noch einen unsäglich dicken Mann mit einem Riesentattoo von Karl Marx auf dem Rücken, der aber die meisten Autogrammjäger auf sich zieht - eine herrliche Maradona-Karikatur, die Sorrentino später aber mit Überdeutlichkeit wieder verflacht. Und dann hat Jane Fonda noch einen Auftritt: als alternde Diva, die sehr wohl weiß, was sie noch wert ist, und dem vom Keitel gespielten Regisseur eine so eisige wie kraftvolle Absage erteilt. Sehenswert, aber eben nicht jedermanns Geschmack.

In Hou Hsiao-siens »Assassin« sah die Kontroverse anders aus: die, die gebuht hätten, sind vorher rausgegangen. Umso entschiedener war der Applaus, den es am Ende gab. Alle, die einen Martial-Arts-Film erwartet beziehungsweise schon im Vorhinein die Stirn gerunzelt hatten, dass Hou einen Genre-Film drehen würde - wurden auf bestmögliche Art enttäuscht. Es ist wohl das stillste Martial-Arts-Drama, das es je gab, nicht nur, dass ausgiebig geschwiegen wird - die Handlung um gegen den Kaiser rebellierende Territorien und eine verstoßene Tochter bleibt etwas obskur -, das Knarzen der kunstvollen Interieurs, das Rauschen des Windes, das Zirpen der Nacht scheinen die eigentliche Geschichte zu sein. »Assassin« ist eine Schule des Hörens, wobei aber auch die Visuals nicht zurückstehen. Ein berückend schöner Film, der so radikal und gleichzeitig kontrolliert das Genre verweigert, dass er auch bei Nichgefallen Respekt auslöst.

Doch am schönsten ist es in Cannes, wenn ein kleiner Skandal zum Streiten über Filme hinzukommt. In diesem Jahr erfüllt diesen Wunsch nach gemeinsamer Aufregung das mit dem Hashtag #flatgate auf Twitter zum Trend gewordene "Stöckelschuhgebot". Screendaily hatte berichtet, dass mehrere Besucherinnen der Premiere zu »Carol« am Einlass gehindert wurden, weil sie flache Schuhe trugen. Das Protokoll in Cannes sieht für Galavorstellungen "Abendgarderobe" vor, für Männer bedeutet das Anzug und Fliege, für Frauen hohe Absätze. Zwar dementierte Festivaldirektor Thierry Frémaux am nächsten Tag den Zwang zum Stöckelschuh, doch sprachen in dem Fall die Erfahrungsberichte Betroffener für sich selbst. Benicio del Toro und Josh Brolin erklärten bei der Pressekonferenz zu »Sicario« ihre Solidarität, indem sie scherzhaft bekundeten zu ihre Premiere hochhackige Schue tragen zu wollen. Ein Versprechen, dass sie nicht wahr machten.
 
 
So klein und oberflächlich der Anlass scheinen mag, so groß war doch die Welle, die er schlug. Trifft er doch von einer etwas anderen Seite den wunden Punkt des Festivals von Cannes, nämlich sein mangelndes Bemühen in Sachen Gleichberechtigung. Immer wieder war in den letzten Jahren der Mangel an weiblichen Regisseuren im Wettbewerb kritisiert worden. Dass diesmal zwei von 19 Filmen von Frauen sind, gilt da schon als Fortschritt! Dass der außer Konkurrenz laufende Eröffnungsfilm von einer Frau stammte und mit der 86-jährigen französischen Regisseurin Agnès Varda nun zum ersten Mal eine Frau mit einer Ehrenpalme geehrt wird, verführte manche Medien bereits dazu, Cannes 2015 zum "Jahr der Frau" auszurufen. Das #flatgate machte klar, dass es mit der Emanzipation in Cannes nicht ganz so einfach ist.
 
Zur Befriedung der Aufregung mag beitragen, dass zwar ausgerechnet die Filme der beiden Regisseurinnen im Wettbewerb, sowohl Maiwenns »Mon roi« als auch Valérie Donzellis  »Marguerite et Julien«, enttäuschten, es dafür in diesem Jahr aber geradezu eine Schwemme an starken Frauenfiguren in den Filmen der Männer gibt. Haynes’ lesbisches Liebesdrama »Carol« mit einer herausragenden Cate Blanchett in der Hauptrolle machte da erst den Anfang. 
 
 
So steht im Drogendrama »Sicario» vom Spannungsmeister Dennis Villeneuve mit Emily Blunt eine taffe FBI-Agentin im Mittelpunkt, die gegenüber Josh Brolin und Benicio del Toro auch ihre moralische Standfestigkeit behauptet. Bezeichnenderweise geht es in allen drei Filmen aus Asien um Frauen und ihre Schicksale: Kore-eda erzählte ein zärtlich-intimes Drama um vier Schwestern, Jia Zhang-ke begleitet in »Mountains May Depart« melancholisch eine Frau und ihre verlorenen Lieben über drei Jahrzehnte. In Hous kunstvoll verlangsamten Martial-Arts-Drama ist der titelgebende »Assassin« weiblich. Und wie gesagt, auch wenn in Paolo Sorrentinos »Youth« mit Michael Caine und Harvey Keitel zwei alte Männer das Wort führen, gehörte auch hier der beste Auftritt einer Frau, nämlich Jane Fonda.
 
Selbst in den drei hochkarätigen Filmen, die als Zugeständnis an kommerziellere Geschmäcker außer Konkurrenz gezeigt wurden, setzte sich dieser Trend fort: In »Mad Max: Fury Road« ist die eigentliche Hauptfigur die von Charlize Theron gespielte Kämpferin Furiosa, der Dokumentarfilm »Amy« verneigt sich vor dem viel zu früh aus der Welt geschiedenen Talent der Sängerin Amy Winehouse. Und dem Animationsfilm aus dem Hause Pixar-Studio gelang es gleich mehrere mädchenhafte Figuren zentral zu setzen ohne sie auf ihre Drolligkeit oder andere Mädchenklischees zu reduzieren. Wo hinter der Kamera als noch Förderarbeit nötig ist, auf der Leinwand immerhin ist in Cannes im Jahr 2015 die Auswahl an Frauenfiguren so reich wie selten.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt