Alles wartet auf Ryan

... unterdessen geht der Wettbewerb in Cannes weiter

Nachher kommt Ryan Gosling und im Festivalpalais herrscht eine Stimmung wie vor Weihnachten. Alle versuchen noch schnell vorher das Wichtigste zu erledigen, eine Atmosphäre von Bienenschwarm-Fleiß weht über die Treppen und Hallen des "Bunkers" und ab und an erklingt aufgeregt-albernes Gelächter. Alle lieben Ryan als Schauspieler, mal schauen, ob die Liebe die Probe des Regiedebüts übersteht.

Unterdessen, während im Umfeld des Festivals lauter Ereignisse stattfinden, die der bodenständigen Filmkritikerin mit rosa Akkreditierung das Gefühl des Ausgeschlossenseins vermitteln - musste im Kino sitzen, als Stallone, Statham, Gibson, Snipes und Lundgren auf einem sowjetischen Panzer über die Croisette fuhren, um Expendables 3 zu promoten; zur Hunger Games-Party wurde ich genauso wenig eingeladen wie zur Superexklusivvorführung von Abel Ferraras Dominique-Strauss-Kahn-inspiriertem Welcome to New York mit Gérard Depardieu - stürmt der Wettbewerb weiter, Film für Film erreicht die Ziellinie, mal mit mehr und mit weniger Applaus, aber doch stets Nase an Nase, es wird einmal mehr auf ein Fotofinish hinauslaufen.

Ausgesprochen gut kam beim hiesigen englischsprachigen Publikum Bennett Millers Foxcatcher an. Miller hat sein von wahren Ereignissen inspirierten Film fast überdeutlich auf bildsprachlich-düsteren, dialogisch-stammelnden Arthouse-Ton getrimmt. Am Anfang sind da etwa die beiden Brüder Mark (Channing Tatum) und Dave (Mark Ruffalo), der eine (Tatum) auf den ersten Blick als tumber Tor zu erkennen. Alleine steht er in der Turnhalle, den Blick brütend auf die Kabine gerichtet, in der sich sein Bruder angeregt mit Funktionären unterhält. Die Rivalität ist etabliert, und sogleich deren Unauflösbarkeit: der eine Bruder hat soviel mehr soziale Begabung als der andere... Dann kommt Dave raus, umarmt seinen Bruder, und mit der Umarmung beginnt sogleich ein Training - habe ich gesagt, dass beide "Wrestler", also Ringer sind? Und vor allem Tatum die gute Hälfte des Films in diesen unvorteilhaften Spandexbadeanzügen zubringen muss? Das Training gleicht einem stummen Tanz mit den Knautschen des Turnhallenbodens als Musik dazu. Es ist ein atmosphärischer Einstieg, der weniger einem Versprechen als einem Fluch gleichkommt: Von da an bleibt der Film bei seinem depressiven Grundton des Unausgesprochenen. Das Geschehen wird durch Stammeln und mal brütenden und mal kalten Blicken bestimmt.

Das Brüdergespann wird aufgemischt durch einen derangierten Millionär namens John E. Dupont, (Steve Carell mit Nasenmaske, angeblich unterwegs zum ersten Oscar) der sich mit seinem Engagement als Ringersportsponsor irgendetwas beweisen will. Er "kauft" sich Mark als Champion ein, gefällt sich zunächst in der Mentoren- und Trainerrolle und will bald selbst in den Ring treten. Und er weiß, dass Dave eigentlich der "bessere" der Brüder ist. Die ungemütliche Dreiecksbeziehung nimmt dann aber doch noch eine andere Wendung.

Was für die einen ein düster-komplexes Drama über Männerrivalität und -liebe war, erschien anderen (mir) wie ein sehr in die länge gezogener Film, der auf seinen zwei Konflikten herumreitet. Überdeutlich in der Figurenzeichnung - Tatum als nicht sehr helles Muskelpaket, Carell als größenwahnsinniges Muttersöhnchen, Ruffalo als prima Familienvater - und in der Filmsprache: jede Einstellung mit dem Pseudokunstanspruch, bloß keine gute Stimmung machen. Wo Millers Moneyball sein trockenes Thema mit viel trockenem Humor und flottem Schnitt ausbalancierte, geht er hier den entgegengesetzten Weg, als hätte er Angst, gefällig zu erscheinen.

Die Japanerin Naomi Kawase dagegen bleibt sich und ihrem naturverbundenen Kino in Still the Water treu. Ein junges Mädchen, ein Junge im gleichen Alter, sie ist dabei, die Mutter zu verlieren, er kämpft noch immer mit der Trennung der Eltern. Dazu tobt das Meer an dem Ferienort, wo sie sich befinden, es werden ruhig weise Worte gesprochen und alles ist sehr schön und bis in die Konflikte hinein ein klein wenig zu aufgeräumt. Kawase kam gut an, aber niemand spricht über eine ernsthafte Palmenchance.

Für die Brüder Dardenne wäre es die dritte Goldene, wenn die Jury unter Jane Campion sich für ihren Two Days, One Night entscheiden könnte. Den ersten Reaktionen nach halten das viele für möglich. Tatsächlich ist es der vielleicht gefälligste Film der Dardennes bislang: Marion Cotillard muss zwei Tage lang für ihren Arbeitsplatz kämpfen, in dem sie ihre Kollegen dazu zu überreden versucht, auf ihre Bonus-Zahlungen zu verzichten. Als Figur mit Depressionshintergrund nimmt Cotillard den Konflikt vor allem persönlich. Unterstützt von ihrem Mann klappert sie die Kollegen ab und hat sehr vorhersehbare Gespräche über Ratenzahlungen und andere Leistungen, auf die die mit dem sicheren Arbeitsplatz dann doch nicht verzichten können. Das Ende ist ausgedacht zwiespältig, wie überhaupt der Film sich gefährlich nah am Sozialkitsch bewegt. Er zwingt den Zuschauer denselben Konflikt auf, den im Film die Firma ihren Arbeitern überhilft - und der den Streit über die Arbeitsmarktstrukturen nur verdeckt. Ob dieser Gestus des Engagements, der soziale Umstände in Emotion übersetzt, bei der Jury ankommt?

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