Man muss das Auge trainieren

Fuocoammare (2015)

Dass Botschaften nicht in einen Film gehören, sondern von der Post gebracht werden, wurde in den ersten Berlinale-Tagen widerlegt. Im Wettbewerb überzeugte eine stille Dokumentation zur Not der Flüchtlinge im Mittelmeer. Künstlerisch wenig ergiebig: die Lebensmittel-Krisen des westlichen gehobenen Bürgertums

Meryl Streep hat sich für den Juryvorsitz der Berlinale richtig lange freigenommen. George Clooney war zum Kaffeee bei der Kanzlerin. Kirsten Dunst sah in ihrem zarten schwarzen Kleid auf dem Roten Teppich perfekt aus. Läuft eigentlich alles prima auf der 66. Berlinale. Und die Filme? Da ist nach zwei Tagen Wettbewerb noch Spielraum nach oben. Aber das Festival hat wieder eine seiner Stärken gezeigt – im Politischen, bei den Beiträgen, die dahin gingen, wo es wehtut.

Nach Lampedusa zum Beispiel, der winzigen Insel im Mittelmeer, die zu einer Chiffre für die Not der Flüchtlinge aus den afrikanischen Ländern geworden ist; 450.000 Menschen sind hier schon gestrandet, 15.000 auf der Überfahrt gestorben. Gianfranco Rosis »Fuocoammare« (Fire at Sea) nähert sich der Katastrophe durch stille, geduldige Beobachtung, abseits traditioneller Berichterstattungsformen. Kein Kommentar, kaum Zahlen, kein Nachrichtenarchivmaterial. Sondern: Kinderspiele, Familienszenen, Fischer und Taucher bei der Arbeit. Die Menschen auf der Insel, auch der zwölfjährige Samuele, ein erstaunlicher Junge, versuchen, ihren Alltag zu organisieren. Aber es ist keine alltägliche Situation auf Lampedusa. Und ganz langsam sickern in den Film Szenen ein, die den Blick weiten. Flüchtlinge, die in Goldfolie gehüllt am Kai sitzen; ein Arzt, der eine knapp davongekommene Schwangere untersucht; Retterteams, die vollkommen erschöpfte, dehydrierte Menschen in ein Boot zerren – schwer zu sagen, wer da noch lebt, wer tot ist – ein traumatisierter Mann, der eine blutige Träne weint. Dazwischen aber auch immer wieder der kleine Samuele, der seine Kreise auf der Insel zieht, merkwürdig vernünftig für sein Alter und mit einem »sehfaulen« Auge geschlagen, das er mit einer Spezialbrille trainieren muss. Dieses Auge ist die zentrale Metapher des Films: für die Blindheit der Europäer angesichts des täglichen Sterbens, für das mediale Arrangement mit der Katastrophe im Mittelmeer. Gianfranco Rosi hat 2013 in Venedig den Goldenen Löwen bekommen; »Fuocoammare« wäre durchaus ein Bären-Kandidat.

Weniger elaboriert, doch nicht uninteressant war der tunesische Beitrag »Hedi« von Mohamed Ben Attia. Der Titelheld des Spielfilmdebüts ist ein junger Mann, dem weder die kapitalistische Moderne – ein freudloser Verkäuferjob bei Peugeot – noch die islamische Tradition – eine von seiner Mutter arrangierte Ehe – etwas zu bieten haben. Die private Revolte, die »Hedi« nach dem politischen Umbruch in Tunesien probt, mag eher unspektakulär inszeniert sein. Aber der Film gibt dem Zuschauer über die Kulturen hinweg das Gefühl, das könnte ihn etwas angehen.

Was man von zwei Beiträgen, die sich mit der Krise des gehobenen westlichen Bürgertums befassten, nicht so ohne weiteres sagen kann. Der Kanadier Denis Côté, vor drei Jahren bereits im Wettbewerb, enttäuschte mit »Boris sans Béatrice«, einem mühevoll verrätselten Thriller um einen geheimnislosen Mann des Typs arroganter, promisker Unternehmer. Und »L'Avenir« von der hoch gehandelten Autorenfilmerin Mia Hansen-Løve dürfte das Publikum gespalten haben. Isabelle Huppert spielt eine linksintellektuelle Philosophielehrerin, die einerseits enervierend plakativ Listen von Büchern, die Sie gelesen haben müssen, auswirft, andererseits aber auch rührend wirkt in der Art, wie sie eine Kumulation von lebensgeschichtlichen Enttäuschungen meistert.

»Midnight Special« von Jeff Nichols (»Take Shelter«) war in diesem Aufgebot ein Ausreißer. Die Geschichte um einen übersinnlich begabten Jungen, der mit seiner Familie auf wilder Flucht vor einer Sekte und dem FBI ist, überträgt Motive aus Science-Fiction-Filmen, phantastischen Fernsehserien und Superheldencomics in ein Drama, atmosphärisch dicht, drängend und über weite Strecken originell – die »X-Men« als Arthouse-Movie. Die extrem hohen Erwartungen an die erste US-Produktion in der Konkurrenz konnte Nichols nicht ganz erfüllen. Aber er hatte seine Stars mitgebracht: Michael Shannon, Joel Edgerton... und Kirsten Dunst in ihrem schönen Kleid.

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