Lebensneugier

Die Welt, die in dieser Ausstellung zu besichtigen ist, erstreckt sich über fast alle Kontinente. Aber manchmal liegt sie auch gleich um die Ecke. Es war also kein Wunder, dass mir die Leuchtreklame der Bäckerei Süss bekannt vorkam – es war noch keine Viertelstunde her, dass ich auf der Sonnenallee an ihr vorbeiging, bevor ich am U-Bahnhof Hermannplatz die Linie 8 nahm. Gut möglich, dass ich eben jene Treppe hinabstieg, die Karim Ainouz fotografiert hatte.

Eigentlich wollte ich zu Fuß zur DAAD-Galerie in der Oranienstraße gehen. Dort ist die Werkschau "Blast!" des Filmemachers noch bis zum 10. 3. zu sehen. Aber meine Bequemlichkeit zahlte sich aus: Ich war schon mittendrin, bevor ich überhaupt die Galerietür öffnete. Der Brasilianer mit algerischen Wurzeln war 2004 Gast des Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes gewesen und hat Berlin seitdem zu seinem Lebensmittelpunkt erkoren. Manche der Stipendiaten wollen hier gar nicht mehr weg, das war vor ihm schon bei Antonio Skarmeta und anderen der Fall gewesen. Einige der Feste, die er in seinen Aufnahmen festhält, könnten also in Gästewohnungen des DAAD stattgefunden haben und einige der Leute, die er porträtiert, mag er aus dem Künstlerprogramm kennen. Das zu sehen, war wie eine Erdung für mich, denn ich saß ein paar Jahre in der Jury der Filmsparte des Programms (wenngleich etwas später als 2004). Aber der Wiedererkennungseffekt ist nur ein Teil der Schau, die Ainouz' Neugier und seinen Projekten in aller Herren Länder folgt. Im vergangenen Mai war sein Historienfilm »Firebrand« mit Alicia Vikander und Jude Law in den Wettbewerb von Cannes eingeladen; in seinem nächsten Film »Bushpruning« spielt Kristen Stewart die Hauptrolle.

Was er auf diesen Reisen erbeutete, wird einerseits von acht Diaprojektoren (nur sechs waren gestern in Betrieb – eine verspielte Koketterie oder eine technische Havarie?) an die Wände geworfen. Nur wenige Fotografien sind gehängt. Auf den Glastischen neben den Projektoren sind Requisiten seines Arbeitsalltags drapiert. Es sind kuriose Erinnerungsstücke, darunter ausrangierte Handys, vergessene Hotelschlüssel, antike Audiokassetten, Notizbücher in verschiedenen Sprachen, eine Videokassette seines ersten Films »Madame Sata« oder Gefäße für Kontaktlinsen. Sie geben diesem Sammelsurium seines Lebens auch eine zeitliche, ja zeitgeschichtliche Dimension. Die Versuchung, sie in die Hand zu nehmen, war groß - schließlich handelt es sich um Gebrauchsgegenstände -, aber ich habe mich dann doch beherrscht. Ihnen eignet zu viel Privates, ihre Aura der Intimität will unangetastet bleiben. Die Fotos sind Dokumente der Schaulust, die Ainuoz an die unterschiedlichsten Orte führt - sie kennt keine Grenzen. Oft sind es reine Schnappschüsse, häufig unscharf, Zeugnisse, an diesem oder jenem Ort gewesen zu sein. Sie dokumentieren zugleich eine Geselligkeit, die gleichsam ambulant ist, wenn nicht gar nomadisch. Die Projektoren sind in Zweierpaaren installiert, die Fotos kommentieren einander nicht unbedingt, aber fügen sich zusammen. Wie das Ganze wohl in dem Katalog aufbereitet werden wird, der im Distanz Verlag erscheint? Am 16. 2. stellt Ainouz das Buch vor bei einem Artist Talk. Eine Auswahl seiner Filme läuft im wieder einmal nahe gelegenen Kino fsk.

Kuratiert hat die übersichtliche Ausstellung Felix von Boehm, der »Zentralflughafen THF« mitproduziert hat und für den Schnitt sowie die Drohnenaufnahmen zuständig war. Im zweiten Raum sind Ausschnitte bzw. Outtakes des Films von 2018 zu sehen (auf der Rückseite laufen Impressionen der Sonnenallee aus »Sunny Lane«). Der Film über Tempelhof, nach 2015 eine erste Anlaufstelle für Geflüchtete, ist wirklich erstaunlich: einerseits ein Kompendium seiner vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten (auf dem Tempelhofer Feld gibt es auch einen Imker), und zugleich ganz konzentriert in seiner dokumentarischen Empfindsamkeit. Was wohl aus Ibrahim geworden ist, dessen Voice-over den Film poetisch strukturiert und der nach fast anderthalb Jahren die Unterkunft verlässt? Vielleicht kann ich es am 16. Februar erfahren. Er vermisste den Staub in Syrien. Kurz bevor er Tempelhof verlässt, treten er und ein zweiter Protagonist aus dem Inneren des Gebäudes nach Außen, wo ihnen gleißendes Tageslicht entgegenschlägt.

An diese Einstellung musste ich denken, als ich den dritten Raum betrat, in dem die Installation "Heller als die Sonne" zu sehen ist. Offenbar ist sie die Arbeitsskizze eines Drehbuches über einen Algerier, der nach französischen Atomtests in der Sahara sein Augenlicht zu verlieren droht. Hier nimmt die Schau noch einmal eine ganz andere Gestalt an, zumal im Zusammenspiel der projizierten Fotografien mit der Tonaufnahme eines Gesprächs, das der Überlebende mit einem Psychiater führt, der sich als Nachfahre eines Offiziers der Kolonialarmee entpuppt. Ainouz legt beziehungsreiche Spuren aus; auf den Film darf man gespannt sein.

Für mich war er vor allem der Regisseur eines der großen Melodramen dieses Jahrhunderts, »Die Sehnsucht der Schwestern Gusmao«. In der Schau habe ich ungekannte Seiten an ihm entdeckt, eine umfassende Lebensneugier. Ich wusste beispielsweise nicht, dass er gelernter Architekt ist. Er hat einen Blick für die Aura von Beton. Er bringt die Orte zum Sprechen, in seinen Filmen ebenso wie in seinen fotografischen Notizen. Meinen Rückweg nahm ich dann doch zu Fuß in Angriff; die Eindrücke sollten nachklingen im schwindenden Licht des Sonntagnachmittags. Aber fortan halte ich weiter die Augen offen nach Karim Ainouz' Berlin.

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