Knock'em silly!

Heute ist ein besonderer Tag für mich. Norma Barzman feiert ihren 103. Geburtstag. Üblicherweise rufe ich sie daheim in Beverly Hills an. Aber in diesem Jahr hat ihre Tochter Suzo eine Videokonferenz organisiert. Die ideale Uhrzeit dafür zu finden, war bestimmt nicht einfach. Normas sieben Kinder leben in einer Reihe unterschiedlicher Zeitzonen: den USA, Europa und Hongkong.

Für viele von Ihnen werden Zoom-Konferenzen seit der Pandemie vertraut sein. Für mich ist es das erste Mal. Ich bin also doppelt gespannt. Regelmäßigen Leserinnen und Lesern dieses Blogs wird Norma vielleicht keine Unbekannte sein. Ich schreibe gern über sie : Sie ist eine ganz außergewöhnliche Person. Wir lernten uns zu Beginn des Jahrtausends während der Retrospektive kennen, die das Österreichische Filmuseum und die Viennale der Black List in Hollywood widmeten. Die Drehbuchautorin Norma und die Schauspielerin Marsha Hunt waren als Zeitzeuginnen eingeladen. Am Morgen nach unserer ersten Begegnung nahm mich Norma unter ihre Fittiche. Sie wollte das Jüdische Museum in Wien besuchen, weil sie gehört hatte, dass es mit Hologrammen arbeitete. Das schien ihr eine interessante Idee für dessen Gegenstück in Los Angeles zu sein. Nach dieser Mission ging es in den folgenden Tage mit unermüdlicher Neugier weiter: Besichtigungen der legendären Plätze des Roten Wien, der Marx- und Engels-Höfe etc. Ich kam kaum mit ihrem Tempo mit.

Nach Wien hielten wir engen Kontakt. Natürlich bedaure ich, dass ich ihrer Einladung, sie in Los Angeles zu besuchen, nie nachkam. Immerhin sprach Norma sie mit unbändiger Unternehmungslust aus: „We'll knock 'em silly!“ Aber wann immer sie in Paris war, um ihre Tochter Luli und andere Angehörige zu besuchen, trafen wir uns. Ihre Tochter wohnte damals auf der Rive Gauche unweit einer Straße, die Balzac in „Vater Goriot“ beschrieben hatte - das musste vor Ort und in der Literatur überprüft werden. Als ich Luli kennenlernte, wurden mir zwei Dinge klar. Erstens: Die Kinder von Norma mussten gute Gene geerbt haben ( ihr Mann Ben starb 1989), denn Luli wirkte 20 Jahre jünger. Zweitens: Die Filmwelt ist klein. Luli hatte bei meinem Freund Jean-Pierre Jeancolas studiert, den ich am Vortag getroffen hatte und der sich an ihre Abschlussarbeit erinnerte. Und wenige Tage später erzählte mir Jacques Fieschi (dem Drehbuchautor der letzten Sautets und zahlreicher weiterer Großtaten - zuletzt „Verlorene Illusionen“), dass Norma und Ben in Cannes Nachbarn seiner Mutter gewesen waren und er mit ihren Kindern gespielt hatte und schwimmen gegangen war.

Es nimmt nicht wunder, dass es mehrere von ihnen ins Filmgeschäft verschlug. Paolo Barzman ist ein vor allem im Fernsehen erfolgreicher Regisseur und Spezialist fürr „Largo Winch“-Adaptionen. Lulis Mann hat einige bezaubernde Animationsfilme produziert, darunter „Das Geheimnis der Kells“. In Paris gingen Norma und ich ständig ins Kino und waren selten einer Meinung. „Vincere“ von Bellocchio gefiel ihr nur zur Hälfte und Agnès Merlets Film über Artemisia Gentilieschi war ihr nicht feministisch genug. Sie wollte ein eigenes Drehbuch über die Malerin schreiben. Nur die Reprise von „Mr. Lucky“ mit Cary Grant gefiel uns beiden; schon aus Nostalgie. Sie kannte den Drehbuchautor Adrian Scott gut, der wie sie auf der Schwarzen Liste gelandet war.

Einmal besuchte Norma mich auch in Berlin, wo sie zum letzten Mal vor Jahrzehnten gewesen war, als sie und Ben gegen den Produzenten Artur Brauner prozessierten, der gegen ihr Urheberrecht an einem Drehbuch über Dr. Korczak verstoßen hatte. Eine ähnliche Klage wollte Norma später gegen „Gladiator“ anstrengen, der nach ihr doch zu sehr „Der Untergang des Römischen Reiches“ folgte. (Hat einiges für sich, kam aber nie vor Gericht.) Gleichviel, bei ihrem Besuch freute sich Norma darüber, in ihrem Hotel zum Frühstück Kipferl zu verspeisen und abends bei mir einen Dry Martini zu trinken („Very dry!“ sagte sie mit Kennermiene). Freunde, die ich zu einer Party einlud, waren verzaubert. Normas Begeisterungsfähigkeit ist eben ansteckend. Sie wurde ihrerseits nie müde, bei unseren Geburtstagstelefonaten Grüße an die Runde auszurichten.

Unterdessen schrieb sie Bücher, darunter das Memoir „The Red and the Blacklist“ (sie hegte immer den Verdacht, ich hätte nur die Kapitel über ihre und Bens Arbeit für Joseph Losey und Anthony Mann gelesen, aber das stimmt nicht). Nach wie vor arbeitet sie an der Drehbuchadaption ihres Romans „The End of Romance“ - noch auf ihrer Schreibmaschine, aber eine Enkeltochter kommt regelmäßig, um das Manuskript in ihren Computer ein zugeben. Normas Ärzte sind begeistert von ihrem Gesundheitszustand. Wenn meine Knie nicht wären, würde ich jeden Tag tanzen, sagte sie noch vor ein, zwei Jahren. Bei unseren letzten Telefonaten mussten wir einige gemeinsame Bekannte beklagen: Der Drehbuchautor Walter Bernstein starb im Alter von 101 Jahren, Marsha Hunt mit 104. Manche Opfer der Schwarzen Liste sind wirklich langlebig!

Als Mitglied der „Writers Guild of America“ hat sich Norm tatkräftig dafür engagiert, dass die Namen der verfemten Autoren endlich wider in den Vorspannen der Filme genannt werden. Gestern schaute ich mir zu Feier ihres Geburtstags noch einmal „The Locket“ mit Robert Mitchum an, der auf einen ungenannten Drehbuchentwurf von ihr beruht. Sie ist durchaus stolz auf ihn, aber die Enteignung, von einem anderen Autor überschrieben zu werden, kränkt sie immer noch. Es ist ein ziemlich exzentrisches Buch, voller in sich verschachtelter Rückblenden und bizarrer Wendungen, darunter einem Abstecher zum Blitzkrieg in London. 1946 muss das eines der ersten Melos mit psychoanalytischen Anwandlungen gewesen sein – recht besehen, ein Vorläufer von Hitchcocks „Marnie“. Ich habe ein Dutzend Fragen zum Film, glaube aber nicht, dass bei der virtuellen Familienkonferenz Zeit dafür bleibt. Ich stelle sie eben nächstes Jahr.

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