Flieger, grüß mir die Sonne

Meine Träume sind nicht selten eine Verlängerung des Tages. Sie lehnen sich oft an die Banalitäten an, die mich in meinen wachen Stunden beschäftigen. Da kommen dann beispielsweise reparaturbedürftige Heizungen vor oder Rechnungen, die bezahlt werden müssen. Manchmal erfinde ich Rezepte, an deren Zutaten ich mich später nicht mehr erinnern kann. Ein Klassiker ist die Sorge vor einem dräuenden Abgabetermin. In der Regel wache ich erleichtert auf, weil der Artikel längst erschienen ist.

Im Urlaub gerät mein Traumverhalten gern aus den Fugen, es wird freier, versponnener, aber vielleicht nicht unberechenbar. Die Resultate können einigermaßen bizarr sein, wie ich vor einigen Jahren an dieser Stelle im Eintrag "Andalusische Träume" offenlegte. Bei meinem diesjährigen Kurzurlaub an der Ostsee war es nicht anders. Da tauchte ein ehemaliger Redakteur, den ich im Rahmen des Usedomer Musikfestivals wieder traf, des nachts in der Rolle eines Diplomaten auf, dem es nicht gelang, einen Krieg im Nahen Osten zu verhindern. Auch eine befreundete Galeristin erschien mir pünktlich nach unserer Begegnung im Traum. Sie trat als sie selbst auf, nun lag ihre Galerie allerdings auf den Hamptons (immerhin auch eine Insel). Sie war in einen ziemlich verworrenen Kriminalfall verstrickt (gar nicht ihre Art) und brauchte dringend ein Alibi. Ich wollte zu ihren Gunsten aussagen, steckte aber in einem Hotel in den Südstaaten fest und kam nur langsam voran in Richtung Long Island. Vor meiner Ankunft riss es mich aus dem Schlaf. Am nächsten Tag fand ich sie zum Glück von jedweder Strafverfolgung unbehelligt vor. Meine Erzählung amüsierte sie enorm.

Ein Vorhaben, das ich bei vorherigen Besuchen auf Usedom nie umsetzen konnte, war ein Besuch der kleinen Nachbarinsel Greifswalder Oie. Ich hatte stets die Verlässlichkeit des dortigen Leuchtturms bewundert. Am Strand von Zempin erzählt eine Tafel die Geschichte des Eilands, das am Horizont liegt. Zu dieser Chronik gehören auch die Dreharbeiten zu »FP 1 antwortet nicht«, dessen Plakat mit den heroischen Profilen von Hans Albers, Sybille Schmitz und Paul Hartmann abgebildet ist. Es ist einer der ersten deutschen Science Fiction-Filme überhaupt und handelt von dem Bau einer schwimmenden Plattform auf halber Strecke zwischen Lissabon und Amerika, wo Atlantikflieger einen Zwischenstop einlegen können, um aufzutanken. Finstere Saboteure wollen dies verhindern. Zur Einstimmung auf unseren Ausflug schauten meine Gastgeberin und ich ihn uns an. Damit ging eine gleich mehrfache Entzauberung einher. Erst einmal empörte uns, wie großkotzig sich Albers in der Rolle des draufgängerischen Piloten Ellissen gebiert. Und dann tauchte die Insel im Film noch nicht einmal auf! Dabei hatte ich die komplette Fassung auf DVD erhascht. Eilig konsultierte ich noch einmal den Wikipedia-Eintrag, in dem die Greifswalder Oie als ein Drehort (neben Cuxhaven, der Howaldt-Werft in Hamburg und den Studios in Babelsberg) genannt wird. In einer Fußnote wird gar auf einen Drehbericht verwiesen (der link führte jedoch zu einem Bergfilm). Hatten wir es hier mit einer kollektiven Sinnestäuschung zu tun? Sonst ist es eigentlich immer genau umgekehrt, da können die Realschauplätze nicht mit den filmischen Illusionen mithalten.

Gleichviel, nach Ansehen des Films ging uns der Ohrwurm "Flieger, grüß mir die Sonne" nicht mehr aus dem Kopf. Wir hatten ihn auch auf den Lippen (...grüß mir die Sterne und grüß mir den Mond..."), als wir mit dem Ausflugsdampfer auf die Greifswalder Oie zusteuerten. Diese ist inzwischen ein Naturschutzgebiet, das den Besuch lohnt. Wir erfuhren viel über die Beringung von Zugvögeln (bis zu 40000 im Jahr!), die aktive Felsenküste sowie über den Wald, der wieder Urwald werden sollte und versuchten nach Kräften, dem Kot auszuweichen, den die Schafe auf dem Gehweg hinterlassen hatten. Dem Rätsel der Flugplattform kamen wir bei unserer Eskapade nicht auf die Spur. Es blieb ein loses Ende des Tages, das in der Nacht pünktlich aufgegriffen wurde. In meinem Traum wurde Albers zwar nicht sympathischer (wobei ich sein freches "Guck nicht so langsam!" gegenüber Peter Lorre schon im Wachzustand ganz ulkig fand), aber die Topografie des Films wurde erheblich nachgebessert. Endlich kam der Leuchtturm zum Einsatz, der Albers in meiner Version den rettenden Weg weist. In die tatsächliche Filmhandlung hätte er gar nicht gepasst, denn FP1 befindet sich ja mitten im Atlantik. Bei mir jedoch kam eine Steilküste vor, an der seine Maschine beinahe zerschellt wäre, wenn er das Steuer nicht rechtzeitig herumgerissen hätte. So großzügig ist das Traumverhalten selten, meist bricht die Handlung ja doch ab, bevor sie ihr Finale erreicht. Von Erleichterung konnte beim Aufwachen keine Rede sein, denn das Mysterium blieb nach wie vor ungelöst. Wie heißt es im Fliegerlied: "Dein Leben, das ist ein Schweben..."

Nach Berlin heimgekehrt, musste ich mir endlich Klarheit verschaffen. Meine Bücher über die Siodmak-Brüder (Curt hatte die Romanvorlage verfasst und zusammen mit Walter Reisch als Drehbuch adaptiert) halfen mir nicht weiter. Aus der Sybille-Schmitz-Biographie von Friedemann Beyer erfuhr ich, dass die Einzelteile der Flugplattform durch den Greifwalder Bodden transportiert worden waren und ihre Endmontage auf der Oie stattfand. Ausführlich zitiert er einen Drehbericht des späteren Schriftstellers Wolfgang Koeppen, der beschreibt, wie Eisenplatten weitflächig auf der Insel ausgelegt wurden und in der Septembersonne glänzten. Die Oie diente also als Untergrund, über dem das Szenenbild errichtet wurde. Das ist schon von traumreifer Metaphorik.

Bei der Lektüre der Lebenserinnerungen des Filmarchitekten Erich Kettelhut, die Werner Sudendorf herausgegeben hat, kam das Schweben endgültig auf soliden Boden. Kettelhut berichtet darin ausführlich und bewundernswert erinnerungsgenau, wie er die Entwürfe zu der sagenhaften Plattform für Erich Pommer umsetzte. Die UFA ließ sich nicht lumpen, »FP1 antwortet nicht« muss eine der teuersten und logistisch komplexesten Produktionen der frühen Tonfilmära gewesen sein. Das Dekor der Plattform musste hoch und ausreichend lang für Starts und Landungen sein. Die Steilküste, zu der die Greifswalder Oie langsam emporsteigt, besaß die nötige Höhe. Strom- und Funkleitungen konnten für die Dauer der Dreharbeiten entfernt werden, der Leuchtturm hingegen stellte zunächst ein Hindernis dar. Dennoch gelang es dem Filmteam, das Hochplateau der Insel für die gewünschten Kameraperspektiven ausreichend mit dem Dekor zu verkleiden. An diesem sonnigen Septembernachmittag hatten wir rund 90 Jahre später also tatsächlich den Drehort des Films besucht, nur eben ahnungslos. Kettelhut hatte übrigens darauf bestanden, die Szenenbilder nicht wie üblich aus Holz zu bauen, sondern Eisenplatten auszulegen, damit man die Schritte der Darsteller echt klingen. Er hatte rasch begriffen, worauf es beim Tonfilm ankommt. Unsereins fällt so etwas im Traum nicht ein.

 

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