Der andere Jahrestag

Am 12. September 1973 hatte Jacques Mesrine, der meistgesuchte Verbrecher Frankreichs, allen Grund, sich zu ärgern. Erwartungsvoll hatte er die Tageszeitungen gekauft, um zu erfahren, was sie wohl über seinen jüngsten Coup schreiben würden. Aber er musste entdecken, dass ihm ein anderer die Titelseiten gestohlen hatte: Augusto Pinochet, der in Chile das linke Allende-Regime mit einem Putsch beendet hatte. "Und kein Wort über mich?" empörte er sich. Was ist schon ein Staatsstreich im fernen Lateinamerika gegen die Eskapaden des Staatsfeindes Nr. 1?

Dieser Putsch war einer unter vielen, aber er war wie kein anderer. Mit Salvador Allende wurde eine ganz außerordentliche Figur beseitigt: ein Hoffnungsträger von einmaliger Strahlkraft, die bis heute andauert. Als erstem sozialistischen Kandidaten war es ihm drei Jahre zuvor gelungen, mit seiner "Unidad Popular" in Lateinamerika einen Wahlsieg zu erringen. Nixon und Kissinger war er natürlich ein Dorn im Auge. Mit allen Mitteln versuchten sie, seinen Wahlerfolg zu verhindern. Die CIA unternahm zahlreiche verdeckte Aktionen, ein Entführungsversuch scheiterte spektakulär und zahlte sich an den Wahlurnen für den Charismatiker aus. Die genauen Umstände von Allendes Tod sind nach wie vor ungeklärt. Die offizielle Version, die von den Putschisten ausgegeben wurde, lautet auf Selbstmord. Nicht nur Allendes Anhängern bezweifelten und bezweifeln sie.

An diesem 11. September ist das genau 50 Jahre her. Sonst steht der Jahrestag im Schatten des Anschlags auf die Zwillingstürme in New York. Diesmal ist es anders. Das muss ganz im Sinne von Ken Loach sein, das hat er als Spielverderber in dem Omnibusfilm »11‘09‘01« gezeigt, zu dem nach Ende des Trauerjahres um Ground Zero elf Regisseure ihre eigene Sicht präsentierten. Er erinnerte an die Hoffnungen, die mit Pinochets Machtergreifung starben. Allerdings war er nicht der einzige Abtrünnige. Shohei Imamura spielte auf Hiroshima an, der Bosnier Danis Tanovic und der Israeli Amos Gitai demonstrierten, wie die amerikanischen Fernsehbilder die Konflikte in ihren Länder überdecken.

Auf den Straßen von Santiago demonstrierten heute viele Demokraten, die endlich Gewissheit haben wollen über das Schicksal ihrer Verwandten, die der Militärdiktatur zum Opfer fielen. Unentwegte Anhänger von Pinochet gingen zum Jahrestag ebenfalls auf die Straße. Die Ereignisse haben ein reiches filmisches Nachleben, das heuer pünktlich gewürdigt wird. Den ersten Teil von Patricio Guzmans Trilogie »Der Kampf um Chile« strahlt arte zu nachtschlafender Zeit aus. Der gesamte Dreiteiler bleibt für knapp drei Jahre auf der Mediathek des Senders abrufbar. Im chilenischen Fernsehen wurde er erst 2021 gesendet. In Brooklyn läuft die Trilogie momentan in einer restaurierten Fassung. Guzman hatte bereits einen Film über Allendes erstes Amtsjahr gedreht, voller Enthusiasmus über den Aufbruch einer Regierung, die endlich das Volk repräsentierte. Sein Porträt beeindruckte Chis.Marker, der gerade in Satiago war, so sehr, dass er es umgehend in Frankreich herausbrachte. Für den Franzosen ging, wie er in »Le Fond de l'air est rouge« (Rot ist die blaue Luft, 1977-1993) zeigt, mit Allendes Tod eine Epoche zu Ende, die hoffnungstrunken mit dem Pariser Mai 68 begonnen hatte.

Sein chilenischer Kollege reagierte unverzüglich auf den Staatsstreich. Er verschaffte sich sämtliches 16-mm-Material, das er in der Eile auftreiben konnte. Sein Team bestand aus gerade einmal fünf Mitgliedern, von denen eines kaltblütig erschossen wurde. Guzmans Assistent war erst 17 Jahre alt. 800000 Menschen demonstrierten wenige Tage nach dem Putsch auf den Straßen Santiagos ihre Solidarität mit dem ehemaligen Präsidenten. Der schwedische Botschafter schmuggelte Guzmans Drehmaterial außer Landes, das der Regisseur im Pariser Exil montierte.

Am Donnerstag und Freitag (14. und 15) erinnert das Filmmuseum Potsdam mit der Reihe »Der andere Blick: Chile 1973« an den Sturz Allendes. Dieser andere Blick spiegelt die Perspektive der DEFA wider, es laufen u.a. Arbeiten von Orlando Lübbert und Lothar Warnecke. Die DEFA-Stiftung und das Filmarchiv gehen darüber hinaus eine langfristige Kooperation mit dem Berliner Arsenal ein, Filme aus Chile zu präsentieren. Im "Filmforum" in Frankfurt-Höchst läuft eine Reihe mit Filmen von Guzman, die "Linse" in Münster zeigt an drei Abenden aktuelle Film zum Militärputsch. Ich hoffe, dass irgendwo auch einmal wieder Andrès Woods schöner Jugendfilm »Machuca, mein Freund« zu sehen sein wird, der einen hellsichtig-nostalgischen Blick auf die gesellschaftlichen Fortschritte wirft, die unter Allende in dem schmalen, langen Land plötzlich möglich wurden.

Costa-Gavras ahnt in »Der unsichtbare Aufstand« von 1972 die Ereignisse gleichsam voraus. Sein Politthriller ist zwar in einem ungenannten lateinamerikanischen Land (gemeint war Uruguay), wirft aber ein Schlaglicht auf die einschlägigen Ränkespiele der CIA. Sein Protagonist, gespielt von Yves Montand, ist ein als Entwicklungshelfer getarnter Agent, der an der Vorbereitung eines Militärputschs beteiligt ist. Das Fußballstadion, in dem Pinochet seine Gegner zusammenpferchen ließ, wurde ab den 1970 Jahren zu einem Symbol der Diktatur (Joseph Losey greift es in »Monsieur Klein« auf, wo es eigentlich um die Judenverfolgung während der Okkupation in Frankreich geht) und ist dementsprechend ein zentrales Bild in Costa-Gavras »Vermisst«. Paradoxerweise sollte seine Version des Stoffes erheblicher entschärfter ausfallen, als der erste Entwurf, den ihm Universal anbot. Der Regisseur fand, wohl nicht zu Unrecht, dass zu Beginn der Reagan-Ära die Zeit noch nicht reif war für einen Film mit explizit Allende-freundlichen Haltung. Auch auf die vom Studio gewünschte, präzise Bestimmung von Ort und Zeit – „Chile, September 1973“ sollte es im Vorspann heißen – verzichtete er: »Vermisst« spielt mithin in einem bis zur Kenntlichkeit verschleierten Land in Lateinamerika.

In der Ankündigung dieses Eintrags versprach ich Ihnen, dass auch der chilenische Regisseur Sebastián Lelio in ihm vorkommen wird. Bei einem Interview zu »Gloria« fragte ich ihn nach der Brille, die seine Hauptdarstellerin im Film trägt. ER hatte sie eigentlich ausgewählt, weil sie ihn an die Brille erinnerte, die Dustin Hoffman in »Tootsie« trägt und seiner Titelheldin eine ähnliche Energie gibt. "Sie ist zu einem Emblem der Figur geworden, zu einer Ikone," sagte Lelio. "Ich habe gehört, dass die zwei berühmtesten Brillen in Chile nun die von Gloria und Salvador Allende sind!"

 

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