Das Studium der Straße

Der Dokumentarfilm, über den ich heute schreibe, steckt voller wunderbar erhellender Momente. Er heißt »Desperate Souls, Dark City and the Legend of Midnight Cowboy« und handelt von der Entstehung und kulturellen Ausstrahlung dieses Films, der bei uns den Titel »Asphalt Cowboy« trägt. Eine der schönen Erkenntnisse, die ich aus ihm mitnehme, ist die Erzählung Dustin Hoffmans, wie er seine Figur "Ratso" Rizzo fand.

Eines Tages fiel ihm ein hinkender Mann auf, dem er mehrere Straßenblocks lang folgte, um seinen Gang zu studieren. Oft musste er an Ampeln warten. Sobald sie auf Grün schaltete, war er der Erste, die die Straße überquerte. Dieser Mann schätzte seine Chancen im Alltag also genau ein. Im Film wurde daraus dann die Szene, in der Ratso fast von einem Taxi angefahren wird und er den Fahrer anschreit "I'm walking here, I'm walking here!". Ich kannte diesen Moment trotziger Selbstbehauptung bisher nur in der deutschen Synchronfassung, aber im Original ist er viel eindrucksvoller. Neben dem ausgestreckten Zeigefinger, mit dem Richard Roundtree ein paar Jahre später in »Shaft« den New Yorker Straßenverkehr regelt, gehört er gewiss zu den herausragenden Lektionen, die man als Fußgänger im Kino lernen kann.

In Nancy Buirskis Film, der gerade im Rahmen des Festivals DOKUARTS Berlin läuft (http://doku-arts.de/de/start), ist der Schauspieler nur im Off zu hören, ebenso wie der 2003 verstorbene Regisseur John Schlesinger. Allerdings sind beide nicht weniger präsent als die zahlreichen Überlebenden und Zeitzeugen, die Buirski noch vor die Kamera holen konnte: Jon Voight, der die zweite Hauptrolle spielt, seine Partnerinnen Jennifer Salt und Brenda Vaccaro sowie Bob Balaban; außerdem drei Leute, die ich als Leser sehr schätze und nun von Angesicht kennenlernte: Ian Buruma, den Neffen des Regisseurs; den Filmkritiker J. Hoberman und Luc Sante, der mit "Low Life" eines der großen Bücher über die Schattenseiten New Yorks geschrieben hat und sich inzwischen als Transmensch begreift, weshalb sie nun Lucy Sante heißt. Jennifer Salt spricht auch im Namen ihres Vaters Waldo, der für das Drehbuch einen Oscar erhielt und so sein Comeback feierte, nachdem er eine Ewigkeit auf Hollywoods Schwarzer Liste gestanden hatte. Seine Stimme ist kurz zu hören, als er Regie führt bei Jon Voights Probeaufnahmen; auch ein paar Zeichnungen von ihm sind zu sehen. Zwei weitere maßgebliche Mitwirkende am Film sind in historischen Dokumenten gegenwärtig, der Produzent Jerome Hellman und der Kameramann Adam Holender, dessen ruppige Bildsprache der entfesselten Zooms und verzerrenden Weitwinkel mit »Midnight Cowboy« plötzlich für den Mainstream akzeptabel wurde. Holender war stilbildend für den urbanen Realismus im Kino, den danach vor allem Jerry Schatzberg und Paul Newman schätzten; fotografische Vorstudien seiner Kameraarbeit gewähren einen knappen Blick in seine Werkstatt. Das war der erste Film, der wirklich nach New York aussah, sagt ein Zeitzeuge über »Midnight Cowboy«.

Der lange Titel ihres Films lässt erahnen, dass es Buirski um mehr als Filmgeschichte geht. Er erzählt von der Verwüstung, vom schäbigen Ausverkauf des Amerikanischen Traums, Schlesinger und Co schlagen sich auf die Seite der Außenseiter, der Gescheiterten, der Verlierer. Buirski stellt den Film mithin in mannigfache politische und kulturelle Kontexte: den Vietnamkrieg und die Proteste, die er gebiert; das erstarkende Selbstbewusstsein der Schwulenbewegung nach Stonewall; die Verelendung New Yorks; schließlich die Öffnung des US-Kinos für einen filmischen Realismus, der sich zuerst mit dem italienischen Neorealismus Bahn bricht, dann von der Besitznahme der Pariser Straßen durch die Nouvelle Vague fortgeführt wurde sowie vom Spülsteinrealismus des jungen britischen Kinos Anfang der 1960er Jahre. Mit einem ungeheuren, oft verblüffenden Anspielungsreichtum verortet die Regisseurin »Midnight Cowboy« auf einer Kreuzung dieser Strömungen: als eine unverhoffte, wenngleich nicht völlig präzedenzlose Dosis Zeitgeist, die das Publikum elektrisierte. Es war der erste Film, der mit dem Haupt-Oscar ausgezeichnet wurde, obwohl er X-Rating erhielt. Balaban erzählt, das habe hauptsächlich an den Szenen gelegen, in denen er als junger Freier von Joe Buck (Voight) auftritt. Die jugendfreien Fassungen, die später im Fernsehen liefen, waren in der Regel um mehr als 20 Minuten gekürzt.

Das Kinopublikum war 1969 jedoch bereit dafür. Es kam einfach ungemein viel von dem zusammen, was die US-Gesellschaft damals umtrieb. Buirski blickt indes auf eine filmhistorische Parenthese der Freiheit und Kühnheit zurück – die Talking heads stimmen überein, dass ein solcher Film heute nicht mehr möglich wäre. Es ist also eine Menge Nostalgie im Spiel. Zwar bietet ihr Film erstaunliches zeitgenössisches Dokumentarmaterial auf, aber dessen Pulsschlag geben die Zeitzeugen vor. Auf Anhieb könnte man Voight für den interessantesten unter ihnen halten. Er ist nicht um große Worte verlegen, die ihn oft zu Tränen rühren. Er weiß, was er dem Film zu verdanken hat. Als einer der wenigen prominenten Trump-Anhänger in Hollywood muss er auch persönliche Wandlungen und Suchbewegungen stellen, sagt aber kaum etwas über damalige politische Überzeugungen diesseits des Befundes, es sei eben eine chaotische Zeit gewesen damals. Der schwule Subtext seiner Rolle war ihm nicht wirklich bewusst, wohl aber deren Einsamkeit; in der Tat funktioniere der Film ja heute noch als eine Beschwörung von Freundschaft und Loyalität.

Die Zeugen der Dreharbeiten teilen sich durchaus auf in diejenigen, die sich ganz auf die Arbeit am Film konzentrierten und jene, die empfänglich waren für das, was in der Luft lag. Jennifer Salt ist hier eine wunderbare Gewährsfrau, die sich zunächst in die Nachfolge ihres Vaters stellt, der sich selbst gegen alle Widerstände treu blieb. In ihren Erzählungen wird greifbar, wie es brodelt in den USA, wie politisches Bewusstsein aus Entzauberung und wehrhaftem Realitätssinn entsteht. Die Dreharbeiten dieses Films über die Zerrüttung traditioneller Beziehungen dienten übrigens der Anbahnung von mindestens zwei Liebesgeschichten. Die zwischen Salt und Voight war nicht von Dauer, aber Schlesinger lernte seinen Lebensgefährten Michael Childers kennen, mit dem er bis zu seinem Tod zusammenblieb.

»Midnight Cowboy« ist ein Phänomen der Ungleichzeitigkeiten. Hoberman macht das an den Metamorphosen des Westerns fest. Der fungiert in den 60ern als eine Allegorie auf Vietnam; gleichviel, ob nun bewusst oder unwillentlich. John Wayne gewinnt seinen einzigen Oscar für den Spätwestern »Der Marshal« in eben dem Jahr, in dem Schlesingers Film triumphiert. Buirski war offenbar fasziniert von solchen kulturellen und politischen Wasserscheiden. Ihr erster langer Dokumentarfilm handelt von den Lovings, deren Prozess 1967 die US-Gesetzgebung über gemischtrassige Eheschließungen veränderte (Jeff Nichols hat später einen sehr schönen Spielfilm über das Paar gedreht). Buirskis Film würde ich gern einmal sehen, ebenso wie ihr Porträt von Sidney Lumet. Ihnen ist sicher aufgefallen, dass ich jetzt in der Vergangenheitsform über die Regisseurin schreibe. Sie starb vor wenigen Wochen; die Vorführungen ihres letzten Films bei DOKUARTS sind ihrem Gedenken gewidmet.

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