Erlebnis und Wissenschaft

»Ennio Morricone – Der Maestro« (2020). © Plaion Pictures

Es verblüfft mich immer noch, wie wenig Misstöne ich in »Ennio Morricone – Der Maestro«, der heute anläuft, ausmachen kann. Einer von ihnen ist die Geringschätzung, mit der der Komponist über das Titelstück von »Metti una sera a cena« spricht. Glauben Sie mir: Er meint es nicht so. Ich kann es beweisen.

Keine andere seiner Kompositionen habe ich so häufig gehört wie diese. Sie ist für mich Rätsel und Lösung in Einem. Zum ersten Mal begegnete ich ihr, als ich spätabends beim Zappen in die Aufzeichnung eines Konzerts geriet, die der Bayerische Rundfunk ausstrahlte. Das Stück lief bereits ein paar Sekunden, die Einblendung seines Titels hatte ich verpasst. Es riss mich sofort mit. Ein ungekanntes Hochgefühl ging durch meinen Körper. Eigentlich wollte ich längst ins Bett, aber mit einem Mal war ich hellwach. Das Mysterium musste ergründet werden. Wie kann das sein: ein Morricone-Stück, das man nicht kennt?

Das Geheimnis wurde wenige Wochen danach ebenso unversehens gelüftet, wie es in mein Leben getreten war. Eines Abends war ich bei Freunden zum Essen eingeladen und hörte beim Eintreten eben jene Melodie. Die Umarmung zur Begrüßung fiel knapp aus, ich eilte stracks ins Wohnzimmer, um nach der CD zu greifen und endlich den Titel zu erfahren. Er passte, die Magie wollte einfach nicht enden, auch noch zur Gelegenheit: »Nehmen wir an: eines Abends beim Essen«. Meine Gastgeber kannten das Stück, aber von dem Film hatten sie nie gehört. Mir ist seither überhaupt niemand begegnet, der ihn gesehen hat. Regie führte 1969 Giuseppe Griffi Patroni, der auch ein gewiefter Drehbuchautorwar. Die Ausschnitte, die im Netz kursieren, lassen eine ziemlich bizarre Krimikomödie erwarten. Obwohl Florinda Bolkan, Annie Girardot und Trintignant mitspielen, flößt mir der Gedanke, ihn je anzuschauen, eine Heidenangst ein. Unvorstellbar, dass er Morricone gerecht wird!

Das mag frevelhaft klingen, aber wir haben es nun einmal mit einem Komponisten zu tun, dessen Stücke oft unabhängig vom Film funktionieren. Diese Autonomie ist Wohl und Wehe seines Schaffens. Ich glaube, sie hat mit einer Erfahrung zu tun, die er als junger Mann machte. Während des Weltkriegs sprang er für seinen Vater ein, der als Trompeter vor amerikanischen Soldaten spielte. Damals habe er begriffen, sagte er immer wieder, dass Musik keine Wissenschaft ist, sondern ein Erlebnis. »Metti una sera a cena« jedenfalls hat ein reiches Leben jenseits der Leinwand, in Morricones Konzerten schlug es das Publikum regelmäßig in den Bann. Auf YouTube können Sie einige davon entdecken, dazu zahllose andere Versionen – und natürlich das Original, wie es im Film erklingt.

An dem Abend, bevor ich meine Kritik zu Tornatores Dokumentarfilm für das aktuelle Heft schrieb, habe ich sie mir fast alle noch einmal angehört. Ich wollte mich in Stimmung bringen, obwohl klar war, dass das Stück im Text nicht vorkommen würde. Das Gleiche habe ich gestern noch einmal getan, wiederum stundenlang. Diesmal verzichtete ich auf die Varianten, in denen es auf Gitarre, Saxaphon oder sonstwie interpretiert wird. Ich hielt mich an meine Favoriten und entdeckte einen neuen hinzu.

Besonders mag ich die zwei Konzertausschnitte unter Morricones Dirigat. Das eine fand 2007 auf dem Markusplatz in Rom statt, das andere könnte sogar das in München sein (allerdings wird das Stück mit dem internationalen Filmtitel »Love Circle« angekündigt.) In beiden gibt zunächst die Pianistin den Ton an, die auch in Tornatores Film als Interviewpartnerin auftritt. Sie werden sie augenblicklich wiedererkennen an ihren großen, tiefliegenden Augen und ihrer eleganten weißen Mähne. Anfangs spielt diese zauberhafte Komplizin des Wohlklangs die Melodie einhändig, später zweihändig. Ohnehin weitern sich Instrumentierung und Elan bei den Konzerten mit jeder Strophe, bis das Stück schließlich triumphal vom gesamten Orchester Besitz ergreift.

Der Originalsoundtrack (ich empfehle die »Uncut«-Version) ist ein Loungeklassiker, Er kommt samtpfötig daher. Für einige Sekunden bleibt die Melodie noch im Wartestand, es ist nur der Besen des Schlagzeugers zu hören, der sacht über das Becken streicht. Dann ertönt eine Frauenstimme, die versonnen die Melodie vokalisiert. Ich bin nicht sicher, ob es Edda Dell'Orso ist, die Morricone meist in seinen Filmemusiken einsetzte. Dann kommt das unermüdliche Insistieren der Perkussionisten ins Spiel und steigert sich zu einer Easy-Listening-Frenesie, aus der man nicht auftauchen mag. Derweil schwingt sich die Gesangsstimme zu immer neuen Höhen empor. Doch, das muss Edda Dell'Orso sein! Bald entstand auch ein Liedtext, den unter anderem Florinda Bolkan gesungen hat, eher mittelprächtig. Weitaus besser ist die gestrige Entdeckung: ein Fernsehauftritt (noch in Schwarweiß) von Milva, der auch als Zeitdokument reizvoll ist. Sie hält eine Zigarette in der Mikrofonhand, an der sie in einer Gesangspause zieht; nicht lasziv, sondern angemessen verträumt.

Warum werde ich nicht müde, das Stück zu hören? »Metti una sera a cena« hat einen Anfang, aber scheint kein Ende zu nehmen. Natürlich ist die Melodie bestrickend, jedoch muss es noch andere, strukturelle Gründe geben. Bei einem Interview, das ich anlässlich eines seiner Konzerte in Berlin führte, fragte ich Morricone danach. Es muss im Winter 2013/14 gewesen sein. Nun kommen wir also zur Beweisführung. »Metti una sera a cena« sei ein gutes Beispiel dafür, meinte er, wie sich Filmmusik emanzipieren kann. Er fuhr fort: »Aber diese Unabhängigkeit fällt ja nicht vom Himmel. Das Stück passt gut in den Film; es ist nicht abstrakt. Aber es steckt eine kompositorische Arbeit dahinter, die ihren eigenen Regeln folgt.« Während er sprach, nahm er den Notizblock unserer Dolmetscherin zur Hand und und fing an, aus dem Stegreif darauf Noten einzuzeichnen. »Es gibt zunächst einmal zwei Themen: ein einfaches mit drei Noten, die in kurzen Intervallen aufeinander folgen, und ein zweites mit längeren Intervallen. Dann setze ich einen Kontrapunkt in sechs Teilen, der von dem kurzen Thema unterstützt wird. Aus der einfachen Notenfolge wird allmählich eine sehr komplizierte musikalische Konstruktion.«

Obwohl ich ihr meinen Notizblock geliehen hatte, kam die Dolmetscherin kaum nach mit der Übersetzung. Morricone sprach und zeichnete in raschem Tempo. Er zwinkerte ihr vergnügt zu, als er das Notenblatt fertig stellte. »Den Zuhörern fällt das natürlich nicht auf, schloß er. »Das ist sogar besser, denn so entfaltet die Musik eine größere Wirkung.« Ich frohlockte, nun seien wir wieder bei der Doppeldeutigkeit von Musik als Wissenschaft und Erlebnis! »Erlebnis ist schön und gut«, sagte er und reichte mir die improvisierte Partitur, »aber es steckt eine Menge Arbeit dahinter.« Wir hätten auch von Magie sprechen können; für mich steckte in diesem Moment jedenfalls eine Menge davon. Nun zwinkerte die Dolmetscherin mir zu.

In diesem Moment war ich Zeuge einer Gabe, die ich in meiner Kritik zu »Ennio Morricone – Der Maestro« als Platzgründen nicht mehr unterbringen konnte: Der Komponist war ein exzellenter Vermittler seiner Kunst. Man erfährt im Film unermesslich viel darüber, wie Musik funktioniert. Sie, liebe Leserinnen und Leser, sind übrigens die ersten, die mein kostbares Souvenir zu sehen bekommen. Noch nicht einmal meinen filmmusikbegeisterten Freunden Heiko und Binh habe ich es gezeigt. Ich denke, zu Weihnachten kann ich mir endlich einen Rahmen dafür kaufen.

 

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Erratum: Das erwähnte Konzert fand natürlich auf dem Markusplatz in Venedig statt und nicht in Rom. Ich bitte um Verzeihung, GM.

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