Und noch ein Breitengrad

Das ist wirklich einmal ein schöner Filmabend auf arte: nicht zusammengestellt, sondern komponiert. Er fängt an mit dem Schwarzweiß von Pawel Pawlikowskis »Cold War – der Breitengrad der Liebe« und endet im Monochrom von Maurice Tourneurs Stummfilm »The Broken Butterfly«; beide umrahmen Kornel Mundruczos Flüchtlingsfantasie »Jupiter's Moon« und sie alle handeln vom Verhängnis der Mobilität.

Dies Motiv verbindet die zwei Melodramen, neben dem Verzicht auf Farbe, über fast ein Jahrhundert hinweg, als Chronik zweier unmöglicher Lieben, die lange Jahre Bestand haben, aber nie die Prüfung des Alltags bestehen müssen: Das Schicksal, im ersten Fall auch das politische, sieht vor, dass die Paare einander in der Weite der welt abhanden kommen, aber nie voneinander los. Bei Tourneur trennt sie gar ein Ozean, sein Film changiert zwischen Nordamerika (genauer: dem französischsprachigen Kanada) und Europa, was auch korrespondiert mit der Spannung in seiner eigenen Biographie und Karriere.

»The Broken Butterfly« wurde 2019, genau ein Jahrhundert nach seiner Entstehung, in einer restaurierten Fassung wiederaufgeführt, an der L'immagine ritrovata in Bologna, Scorseses Film Foundation und die Pariser Stiftung Seydoux-Pathé beteiligt waren. Die Liebesgeschichte zwischen dem Waisenkind Marcène (Pauline Starke) und dem Komponisten Daniel (Lew Cody) schlägt, wie es sich für ein Melo dieser Epoche gehört, ziemlich haarsträubende Volten, die sich insbesondere ihrer rätselhaften familiären Herkunft verdanken, aber hier nichts weiter zu Sache tun. Entscheidender sind die elementare Begegnung der Zwei und die Ergriffenheit des Spiels. Sie ist ein Wildfang, der ein trostloses Leben führt, zum einen dank der streng puritanischen Kälte ihrer Tante, zum anderen, weil sie vom Dorf ausgegrenzt wird. Ihr treuer Hund ist der einzige Freund, den sie hier findet. Der Musiker aus der Stadt kommt in die Wildnis, um Inspiration für eine Sinfonie zu finden. Er ist ein Charmeur, aber kein ruchloser Verführer; dass aus ihrer Begegnung ein uneheliches Kind hervorgegangen ist, erfährt er erst, als es fast schon zu spät ist. Sie traut sich nicht zu, ihm nach London folgen, wo er Erfolg und Ruhm sucht. Ein verblüffendes und faszinierendes Element ist, dass beide ausbleiben. Die vermeintlich bukolische Schlichtheit trifft nicht den Geschmack des urbanen Publikums. Keine Hand regt sich zum Applaus bei der Premiere.

Der Film weiß es besser. Er versenkt sich mit lyrischer Achtsamkeit, ja Furor in das pastorale Ambiente. Die ersten Landschaftstotalen erinnerten mich augenblicklich an Tourneurs Verfilmung von »Der Letzte der Mohikaner«, aus denen die faszinierte Neugier des Fremden spricht. Die Natur spielt hier ebenso tatkräftig mit; als Refugium und zugleich Terrain des Findens und Entdeckens. Die Allegorie des Spinnenetzes ist hinreißend. Auch die Witterung nimmt Teil am Melodram, ein Unwetter unterstreicht den Aufruhr der Gefühle und das helle Erwachen danach. Auf die Sommerliebe folgt der Zweifel des Herbstes und dann die Endgültigkeit des Winters.

Maurice Tourneur war ein Meister der Atmosphäre; nicht weniger als sein berühmter Sohn Jacques. Es war übrigens kein leichtes Verhältnis zwischen ihnen. Jacques beschrieb den Vater als so unnahbar, wie es die Tante in »The Broken Butterfly« ist. Aber in das Trauma des zurückgewiesenen Kindes konnte er sich als Regissseur einfühlen, etwa in »Poor little rich girl« mit Mary Pickford. Er konnte Stimmungen so zuverlässig einfangen, weil er sie begriff. Ein Schmetterling kann eigentlich nicht brechen, dazu ist er zu weich und biegsam. Aber die Metapher funktioniert.

Er zählt zu seinen unbekannteren Filmen; schön, dass sich der Kanon jetzt erweitert. Er ist bis zum 15. Dezember noch in der Mediathek von arte zu sehen, ein wunderbarer Anstoß, um den Regisseur kennen zu lernen. Er hatte in Paris am Theater als Plakatmaler, Szenenbildner und Regisseur begonnen, bevor er den Sprung über den Atlantik und die Eroberung eines neuen Mediums wagte. Dafür hatte er den idealen Zeitpunkt gewählt: Seine Karriere nahm augenblicklich Fahrt auf, als sich das amerikanische Kino ab 1914 konsolidierte. Er wurde zu einem der großen visuellen Stilisten des Stummfilmkinos; nur der Ruhm von Griffith war damals größer. Zusammen mit seinem Szenenbildner Ben Carré (auch er ein Franko-Amerikaner) entfesselt er den filmischen Raum. Hier sieht man, wie dramatisch ihre Bildkompositionen gestaffelt sind: Der Vordergrund bildet meist einen dunklen Rahmen (auch Figuren treten oft als Silhouetten auf), der den Blick in die Tiefe lenkt. Seine Lichtmalerie ist ungemein facettenreich. Sie sticht ins Auge; stets im Dienst der Gefühle. Sie verleiht, sagte Jacques einmal, den Szenen eine Würde, die sie sonst nicht gehabt hätten.

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