Eine Heldenreise

Im aktuellen epd-Heft stellt Sabine Horst die steile These auf, »1917« sei Tory-Kino. Da vermutlich ein Sinn und Zweck dieser Kolumne darin besteht, Widerspruch zu provozieren, will ich dem gern Folge leisten.

Der Eindruck, bei Sam Mendes' Film handle es sich um eine ziemlich staatstragende Angelegenheit, ist freilich nicht von der Hand zu weisen. Der Regisseur wurde rechtzeitig zum Filmstart von der Queen in den Adelsstand erhoben. Bei den Baftas hat er, keine 48 Stunden nach dem offiziellen Vollzug des Brexit, alle wichtigen Preise gewonnen. Aber es fällt mir doch schwer zu glauben, Mendes würde ideologisch gemeinsame Sache mit dem britischen Premier machen, der als eines seiner ersten Vorhaben ein Gesetz durchgeprügelt hat, das die Zusammenführung geflüchteter Kinder mit ihren Eltern untersagt. Natürlich kann auch ich die Möglichkeit nicht ausschließen, dass »1917« ganz nach dem Gusto Boris Johnsons sein könnte, über dessen Faible für blutrünstige Heldenreisen ich am 28.7. letzten Jahres bereits schrieb.

Eine fundierte Debatte über diese These würde natürlich die ausführliche Erörterung der Frage erfordern, was genau Tory-Kino denn überhaupt ist? Namentlich im Gegensatz zum Labour-Kino? Stünde da „Gandhi“ gegen Ken Loach oder »Chariots of Fire« (Die Stunde des Siegers) gegen Mike Leigh? Und wo müsste man hier James Ivory verorten, aus dessen Filmen zwar eine lässliche Nostalgie nach erloschenem imperialen Glanz spricht, der jedoch unpassenderweise in den USA geboren wurde? Irgendwann könnte diese These einmal auf festen Beinen stehen. Aber da die Kolumne den Ball erst einmal in eine andere, mythische Ecke spielt und beim »Herr der Ringe« landet, will ich mich lieber einer weiteren Theorie zuwenden, die durch die Causa »1917« unhaltbar geworden scheint. Sie treibt mich schon länger um, erstmals erwähnte ich sie im November 2014 an dieser Stelle. Es handelt sich um das Postulat meines Freundes Binh, nach dem Zweiten Weltkrieg habe es keine erfolgreichen Filme mehr über den Ersten gegeben. Er untermauert sie mit einschlägigen Filmen von Joseph Losey, Francesco Rosi sowie Spielbergs »War Horse« (Gefährten) und nicht zuletzt Kubricks »Wege zum Ruhm« (mittlerweile ein Klassiker, aber seinerzeit ein immenses Verlustgeschäft).

Im Laufe der Jahre habe ich diverse Gegenbeispiele ins Feld geführt, die er jedoch stets wacker abschmetterte. »Lawrence von Arabien« und »Gallipoli«? Exotische Schauplätze, bei denen man gar nicht an den Weltkrieg denkt! »Das Leben und nichts anderes« von Tavernier? Spielt nach dem Krieg! »Mathilde - Eine große Liebe«? Der ist doch vor allem ein Melo, das sich ohne die damals unfehlbare Audrey Tautou kaum einer angesehen hätte! »Die Offizierskammer« von Francois Dupeyron? Lief am Ende gar nicht so gut, und in Deutschland ist er noch nicht einmal gestartet! »Der brave Soldat Schwejk« mit Heinz Rühmann, der Kassenschlager des bundesrepublikanischen Kinos? Kannte er nicht! »Man nannte es den großen Krieg« von Mario Monicelli? Die Ausnahme der Regel!

Binhs Verdrängungstheorie hat in der Tat einiges für sich. Der Erste Weltkrieg bot im Kino stets weniger Anlass zur Heroisierung: schmutzig, chaotisch, verheerende Strategien auf allen Seiten. Der Inbegriff seiner Tragik ist der Schützengraben. Wochen-, monatelang wird um ein Handbreit Boden gekämpft, verlieren Tausende ihr Leben, ohne dass sich der Frontverlauf nennenswert ändert. Stets geht es um verlorene Illusionen; junge, glühend patriotische Rekruten erleben auf dem Feld der Ehre keine romantischen Abenteuer, sondern nur Tod und Verzweiflung. Keiner kann mehr sagen, weshalb dieser Krieg geführt wird. Der Endreim der Filme ist die Vergeblichkeit: Der Große Krieg, the war to end all wars, führte geradewegs zum Zweiten Weltkrieg.

Der Preisregen, der seit einigen Wochen allerorten auf »1917« herunter prasselt, entkräftet Binhs These noch nicht; bei den Oscars und anderswo haben Kriegsfilme chronisch gute Chancen. Aber seitdem er die Kinokassen klingeln lässt, weicht mein Freund diesem Thema aus. Er bietet mir nicht einmal mehr Rückzugsgefechte. Mich beschäftigt indes seither die Frage, was Mendes' Film anders macht als seine Vorläufer.

Den genretypischen Widerstreit zwischen Masse und Individuum entscheidet er augenblicklich. Trotz aller Ausschnitthaftigkeit – seine Fokussierung auf einen Rahmen von 24 Stunden erspart es ihm, seine Geschichte in einen historischen Kontext zu stellen -, liefert er beinahe die Summe aller denkbaren Kriegssituationen. Er entwirft einen überschaubaren Mikrokosmos; die Seherfahrung ist gleichsam enzyklopädisch. Die zwei Kuriere sind auf ihrer zielstrebigen Odyssee allen vier Elementen ausgesetzt. (Der Abspann listet gar einen "weather consultant" auf; der typische, zermürbende Matsch fehlt jedoch an dieser Westfront, obwohl die Handlung im Frühjahr spielt.) Dennis Gassners Szenenbild lässt die Landschaften des Krieges Revue passieren, eine Kaskade versehrter Idyllen (besonders pittoresk ist das Tal voller Granaten, das die Zwei hinter der aufgegeben deutschen Befestigungslinie entdecken), ein geglückter Hindernislauf. Die Drehbuchstruktur allein ist schon tröstlich: Episoden kann man hinter sich lassen. Vor allem ist der Film nicht an die niederschmetternde Klaustrophobie der Schützengräben gebunden; seine Erzählung gewinnt eine Freizügigkeit, die sich Filme über den Ersten Weltkrieg generell versagen. Die entscheidenden Ausnahmen habe ich genannt: In »Lawrence von Arabien« wird tatsächlich Gebiet erobert, unermesslich viel sogar; »Schwejk« und Monicellis Komödie sind agile Pikaresken; im Gegenzug könnte man »Mathilde« als Schelmenmelodram bezeichnen.

Die bange Bewegungsfreiheit ist in »1917« nicht nur eine Frage des Raumes, sondern auch der Zeit: Ich finde, dass sie auf magische Weise verstreicht. Er täuscht ja vor, deren klassische Einheit zu beherzigen, erzählte und Erzählzeit in Übereinstimmung zu bringen. Aber der wachsame Realismus wird aufgebrochen von Momenten der Ohnmacht und des Schlafs; in der Waldsequenz gegen Ende scheint er sich gar dem Traum zu öffnen. Diese Odyssee steckt voller lyrischer Fügungen. Ist das alles nur der Anmutung geschuldet, der Film sei in einer einzigen Einstellung gedreht? Ich glaube nicht, denn das vergaß ich immer wieder beim Sehen. Zuzeiten hörte der Kunstgriff tatsächlich auf, ein Gimmick zu sein. Welch Glück, dass Roger Deakins auf das Pathos der Handkamera verzichtet! So bleibt der Blick nicht nur beharrlich, sondern auch stabil. Ich fand das Geschehen auf der Leinwand nicht immersiv, sondern packend.

 

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