Der Rechtsweg ist nicht ausgeschlossen

»Teenagers« (2009)

Die Spitze des Eisbergs ist anscheinend gründlich aus der Mode gekommen. Als Metapher hatte sie sich längst schon abgenutzt, bevor ich auf die Welt kam. Wenn mich das Suchprogramm meines Computers nicht täuscht, habe ich sie in den letzten anderthalb Jahrzehnten auch nur ein einziges Mal in einem Text benutzt. Besäße es also nicht sogar eine gewisse Originalität, wenn ich sie wieder einmal ins Gespräch brächte?

Auf Filmfestivals lässt sie sich durchaus anwenden. Schließlich kann nur ein verschwindend geringer Bruchteil der eingereichten Filme gezeigt werden.

Bislang taten mir in diesem Zusammenhang vor allem die Mitglieder der Auswahlkommissionen leid. Aber die Filmemacher, die hoffnungsvoll ihre Arbeiten anbieten, sind natürlich doch viel bedauernswerter. Über deren Enttäuschung erfährt man erstaunlich selten etwas. Herunterschlucken ist gewiss die diplomatischere und pragmatischere Lösung. Sich lautstark die narzisstische Kränkung anmerken zu lassen, verringert womöglich die Chancen beim nächsten Mal. Umso bemerkenswerter ist es, wenn nun ein Regisseur das Festival von Cannes verklagt, weil es 2009 seinen Film ablehnte. Es scheint das erste Mal überhaupt zu sein, dass so etwas ein juristisches Nachspiel hat.

Der heute 73 jährige Paul Verhoeven (weder identisch noch verwandt mit dem Regisseur von Basic Instinct bzw. dem von Das kalte Herz) jedoch will es nicht auf sich beruhen lassen, dass sein Film Teenagers von keiner der Festivalsektionen angenommen wurde. Sein Anwalt fordert, dass er entweder in diesem Jahr gezeigt wird - oder aber das Festival eine Kinoauswertung finanziert. Das Urteil wird in diesem Monat erwartet. Auf Anhieb wird man einem solchen Unterfangen wenig Erfolgschancen einräumen. Schließlich kann man nur einklagen, was geltendes Recht ist. Verhoeven argumentiert jedoch, die Ablehnung seines Films sei ein Akt der Diskriminierung, genauer: der Homophobie. Hier könnte es interessant werden. Offenbar geht es in Teenagers um ein Coming Out, und er besitzt nach Ansicht seines Regisseurs gesellschaftliche Resonanz, weil er zeigt, wie verführbar Jugendliche durch Gewalt, insbesondere durch Terrorismus sein können. Im Trailer, der auf der IMDB zu sehen ist, lässt sich von Beidem wenig erahnen. Darsteller und Inszenierung erwecken nicht den Eindruck, man habe es hier mit einem kinematographischen Glanzstück zu tun. Nicht einmal das Panorama der Berlinale hat sich für ihn interessiert. Allerdings hat er auf einem unbekannten Festival in Kalifornien tatsächlich zwei Preise gewonnen. Kein User der IMDB hat bisher eine Wertung abgegeben. Trotz der Unsichtbarkeit des Films empfiehlt die Seite ihn Zuschauern, die beispielsweise die Gene-Wilder-Komödie Kein Baby an Bord mochten. Vielleicht sollte Verhoeven dagegen Klage erheben.

Bislang gibt es vom Festival noch keine offizielle Stellungnahme. Dort ist man vollauf mit dem diesjährigen Programm beschäftigt und Thierry Frémaux wird sich bestimmt schon Antworten auf die Frage überlegen, warum der Wettbewerb auch diesmal wieder aus dem altbekannten Männerclub rekrutiert worden ist. Auch die französische Presse hat, bezeichnenderweise im Gegensatz zur anglo-amerikanischen, von dem Rechtsstreit noch wenig Notiz genommen. Ist er ernst zu nehmen? Den Vorwurf der Homophobie wird die Festivalleitung gewiss nicht auf sich sitzen lassen. Sie könnte mit der Goldenen Palme für Blau ist eine warme Farbe argumentieren. In Cannes wird, wenn auch inoffiziell, eine Queer Palm verliehen, die im letzten Jahr an Pride ging. Falls der höchst unwahrscheinliche Fall eintritt, dass das Gericht der Klage stattgibt, könnte die Entscheidung einschneidende Folgen haben. Die Justiziare der Festivals hätten mehr zu tun als deren Auswahlkommissionen.

Aber diese Sorge ist akademisch. Viel interessanter scheint mir die Frage, weshalb ein Filmemacher sich zu einer solchen Donquichotterie hinreißen lässt. Vielleicht ist alles ja nur ein Scherz. Auf einem Foto, das in "Nice Matin" erschien, ähnelt Verhoeven jedenfalls dem (hier zu Lande glücklicherweise weitgehend unbekannten) französischen Komiker Franck Dubosc. Über ihn ist so gut wie nichts bekannt. Offenbar ist er als Regisseur ein Spätberufener, dafür aber ein total film maker, der für Drehbuch, Schnitt etc. selbst verantwortlich zeichnet. Seine Filmographie weist nur zwei Lang- und zwei Kurzfilme auf. Sie sind hauptsächlich 2009 entstanden; drei Jahre später folgt ein Kurzfilm. Die Absage von Cannes hat ihn also nicht vollends entmutigt. Aber die Kränkung muss tief sitzen. Weshalb sonst würde er einen Kampf beginnen, den er so oder so verlieren wird? 

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