Archäologie des Alltags

Ein zuverlässiges Mittel, die Entstehungszeit eines Films zu bestimmen ist es, im Hintergrund auf Filmplakate zu achten. In aller Regel ist ihr Anblick ein untrügliches Indiz. Er datiert Filme; manche lässt er auch veralten. 

Mitunter finden dabei unvereinbare Sphären des Kinos zueinander. Der Umstand etwa, dass in Michael Hanekes erstem französischen Film »Code unbekannt« eine Kinoanzeige zu »Wild Wild West« auftaucht, lässt den Spätsommer 1999 als Drehzeit vermuten, denn damals lief die Western-Farce mit Will Smith gerade in Paris. (Sie war gewissermaßen der »Lone Ranger« des ausgehenden letzten Jahrhunderts.) Ob dieser Bezug dem österreichischen Regisseur nun willkommen war oder unwillkürlich unterlief, sei dahingestellt. So oder so haben wir es mit einem bizarren Zeitdokument zu tun. 

Hätten in den letzten drei, vier Jahren in einer bestimmten Straße in meiner Nachbarschaft Dreharbeiten stattgefunden, wäre indes die zeit- bzw. kinogeschichtliche Zuordnung nicht eindeutig. An ihrem nördlichen Ende steht die Zeit still. Es ist wegen der sich endlos hinziehenden Bauarbeiten an einem Hotel für den Verkehr gesperrt. Vom Bauzaun eingepfercht ist seither auch eine Litfaßsäule, die anstehende Konzerte und Filmstarts annonciert. Ich vermute, sie wurde im Winter 2012/13 zum letzten Mal beklebt. Wollte man ihren Ankündigungen Glauben schenken, müssten die nächsten Kinoattraktionen »Barbara«, »Shame«, »Dame, König, As, Spion« und »The Artist« heißen. Lange Zeit leuchteten die Farben der Plakate noch; tatsächlich dauerte es eine ganze Weile, bis sie verblassten. 

Zwei, drei Winter haben jedoch ihren Preis gefordert. Die meisten von Ihnen sind reichlich zerfleddert. »Barbara« hat dem Wetter ganz gut standgehalten, da es in einem windgeschützten Winkel lag. Auch das Motiv zu »The Artist« ist noch gut zu erkennen. Michael Fassbenders nackter Torso ist auf dem »Shame«-Motiv kaum noch zu erkennen, vom Plakat der Le-Carré-Verfilmung wiederum ist nur der Kopf von Gary Oldman übriggeblieben. 

Welch gründliche Zerstörungsarbeit die Witterung geleistet hat, lässt sich seit einigen Wochen erkennen. Sie hat frühere Schichten freigelegt. Wie dick Litfaßsäulen beklebt werden können, ist ohnehin ein Faszinosum, das weiterreichender Überlegungen bedürfte. Gleichviel, mit einem Mal ist nun Francois Cluzet aus »Ziemlich beste Freunde« wieder sichtbar geworden. Ich warte mal ab, wann sein Kollege Omar Sy wieder zum Vorschein kommt. Auf der Rückseite der Säule ist mir unlängst zum ersten Mal das Plakat zu »Mein bester Feind« aufgefallen. Ich habe vergessen ob es von Anfang an sichtbar war. Tatsächlich musste ich erst einmal überlegen, um welchen Film es sich überhaupt handelt. Das Plakat ist besser erhalten als alle anderen. Die Filmgeschichte ist zwar vergesslich. Aber manchmal gerechter als das Wetter.  

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