»Kleines Fernsehspiel«: Kreativ-Connection

»Shahada« (2010). © ZDF/Yoshi Heimrath

»Shahada« (2010). © ZDF/Yoshi Heimrath

Das »Kleine Fernsehspiel« des ZDF fördert seit 60 Jahren den filmischen Nachwuchs. Heute verfügt es über einen »Back-Katalog«, der sich liest wie ein Who's who des deutschen Films: von Atef bis Praunheim, von Fassbinder bis Qurbani

Schon in seinem Langfilmdebüt hat Christian Petzold zwei Frauenfiguren ins Zentrum gerückt. Eleonore Weisgerber und Nadeshda Brennicke spielen in »Pilotinnen« (1995) Kosmetikvertreterinnen, die sich gegen ihren Chef verbünden und aus ihrem Leben in Abhängigkeit ausbrechen. Ein Hauch von Thelma & Louise, allerdings in deutscher Tristesse am Leverkusener Autobahnkreuz und in billigen Hotelzimmern. Fatih Akin schickte dagegen in seinem Debütfilm »Kurz und schmerzlos« (1998) drei junge Männer auf einen knallharten Trip durch Hamburger Kieznächte. Mehmet Kurtulus ist »der Türke«, Aleksandar Jovanovic »der Serbe« und Adam Bousdoukos »der Grieche« in einer testosteronhaltigen, aber auch zärtlichen und tragikomischen Großstadtballade. Akin selbst spielt in einer Nebenrolle einen Drogendealer mit Knarre im Kühlschrank.

So unterschiedlich die Handschriften sind – die später vielfach ausgezeichneten Regisseure Akin und Petzold verbindet, dass sie ihre ersten Schritte in der Filmkarriere mit Unterstützung einer öffentlich-rechtlichen Fernsehinstitution machten: dem »Kleinen Fernsehspiel«, das bereits im Gründungsjahr des ZDF vor 60 Jahren seine Arbeit aufnahm und mit eher bescheidenen finanziellen Mitteln Filmgeschichte mitgeschrieben hat. Bis zu drei Filme eines »neuen Talents« fördert die Redaktion bis heute. Rund 1 700 Projekte sind so in sechs Jahrzehnten zusammengekommen, wie Redaktionsleiter Burkhard Althoff sagt. Ein Archivschatz mit einer Vielzahl von Filmen, in denen frühzeitig Themen wie Migration, Rassismus, Machtmissbrauch und das Verhältnis der Geschlechter aufgegriffen wurden. Die Berliner Schule und auch das Queer-Cinema haben hier ihre Spuren hinterlassen. Die Liste namhafter Künstlerinnen und Künstler ist lang: von Jim Jarmusch und Agnès Varda, Rainer Werner Fassbinder und Rosa von Praunheim bis Emily Atef und Nora Fingscheidt, Burhan Qurbani und Anne Zohra Berrached.

»Man fühlte sich sofort ein wenig so, als ob man ein Zuhause gefunden hat«, erinnerte sich Petzold in einem am 4. April gesendeten Deutschlandfunk-Interview an die Zeit seiner ersten Zusammenarbeit mit dem »Kleinen Fernsehspiel«. Für ihn als jungen Filmstudenten sei es gewesen, »wie von einem fantastischen Verlag entdeckt zu werden«. Bis heute lautet das Versprechen: »Große Freiheit für neue Talente«, so der Claim des »Kleinen Fernsehspiels«. Soll heißen: keine Bevormundung durchs Fernsehen, sondern faire Unterstützung bei der Entwicklung von Projekten zu Beginn einer Karriere. »Es läuft nicht so, dass wir sagen: Ja, du bist ein spannendes Talent und du hast diese Idee, aber wir wollen etwas ganz anderes von dir. So arbeiten wir nicht. In der Regel führt das zu einer sehr vertrauensvollen Zusammenarbeit, bei der Talente vielleicht auch den einen oder anderen Vorbehalt gegenüber dem Fernsehen als Partner ablegen«, sagt Althoff.

Mit einem Budget von mehr als fünf Millionen Euro, »das etwa auch für vier Primetime-Fernsehfilme aufgewendet wird« (Althoff), fördert und realisiert die achtköpfige Redaktion jährlich 25 Neuproduktionen, darunter zehn dokumentarische Stoffe und fünf bis sechs internationale Kinokoproduktionen, in Zusammenarbeit mit Arte. Etwa ein Drittel der 25 Neuproduktionen, so Althoff, seien Diplom- oder Abschluss­filme. Außerdem werden im Rahmen des 1989 gegründeten Formatlabors Quantum experimentelle Stoffe umgesetzt. »Es entstehen da ganz unterschiedliche Dinge, serielle Filme, aber auch Einzelformate, es kann ein Podcast sein oder eine Webserie«, sagt Redakteurin Melvina Kotios. Für Familie Braun – eine Comedyserie, in der sich zwei junge Nazis um ein schwarzes Mädchen kümmern – gab es 2017 einen International Emmy.

Die Spielfläche hat sich durch das weltweite digitale Netz auch für die geförderten Koproduktionen erweitert. Während die Filme nach Festivalteilnahmen und Kinoauswertung irgendwann zumeist in nächtlicher Fernsehnische beim ZDF versendet wurden, besteht nun die Möglichkeit, sie einem breiten Publikum zeitunabhängig zugänglich zu machen – zumindest in den jeweils vereinbarten Fristen. In der ZDF-Mediathek seien die Filme des »Kleinen Fernsehspiels« sehr präsent, erklärt Kotios. »Wir sind sehr oft auf der Startseite oben in der Bühne zu finden. Da sind wir kein Nischenangebot mehr.« Konkrete Zahlen nennt sie nicht, nur dass ein Film wie »24 Wochen« von Anne Zohra Berrached gerade auch in der Mediathek viele Abrufe erziele. Die Redaktion stelle fest, dass sie auch junge Menschen über die Mediathek und über Social Media erreiche.

Den Archivschatz, der nach Althoffs Angaben beim ZDF komplett digitalisiert erhalten ist, ebenfalls zu streamen, ist allerdings aus rechtlichen und finanziellen Gründen nur eingeschränkt möglich. Aus Anlass des Jubiläums hatte die Redaktion ein gutes Dutzend Produktionen ausgewählt, von denen die meisten nun bis März 2025 in der Mediathek zu finden sind. Die Auswahl bietet einen kleinen, aber feinen Querschnitt aus gut vier Jahrzehnten Filmgeschichte:

Neben Petzolds »Pilotinnen« und Akins »Kurz und schmerzlos« sind zum Beispiel auch Jutta Brückner (»Hungerjahre – in einem reichen Land«, 1980), Tom Tykwer (»Die tödliche Maria«, 1993), Lars Kraume (»Dunckel«, 1998), Angelika Levi (»Mein Leben Teil 2«, 2003), Jasmila Žbanić (»Esmas Geheimnis«, 2005), Emily Atef (»Das Fremde in mir«, 2008), Burhan Qurbani (»Shahada«, 2010) und Sarah Blaßkiewitz (»Ivie wie Ivie«, 2019) vertreten.  Auch das Berliner Arsenal-Kino zeigt in diesem Jahr eine Reihe ausgewählter Filme aus 60 Jahren »Kleines Fernsehspiel«. Außerdem findet vom 16. bis 26. November im Berliner Kulturquartier »silent green« unter dem Titel »Was anderes machen (The home and the movie)« ein Festival zum »Kleinen Fernsehspiel« mit Symposium und Ausstellung statt. Fernsehen und Filmkulturerbe sollen dabei »erstmals zusammengedacht« werden, heißt es im Programmtext.

Die Nachwuchsredaktion des ZDF verbindet seit sechs Jahrzehnten beide Mediengattungen, Fernsehen und Kino, die in einer nicht ganz spannungsfreien Symbiose leben. Fast alle deutschen Kinofilme werden aus Fernsehmitteln kofinanziert und erreichen durch die Ausstrahlung im linearen Fernsehen – und nun durch die Verbreitung in TV-Mediatheken – ein deutlich größeres Publikum. Aber was wäre auch das Fernsehen ohne den kreativen Input des Kinos, das mit anderen dramaturgischen und ästhetischen Erzählweisen aufwartet als das immer noch vorwiegend auf ein formatiertes Programmschema ausgerichtete »Pantoffelkino«?

Althoff betont, seine Redaktion würde die künstlerischen Ambitionen junger Filmschaffender nicht ausbremsen. »Wenn wir eine Kinokoproduktion fördern, sind wir die Letzten, die sagen: Mach das zu einem Fernsehfilm. Im Nachwuchsbereich ist es sogar so, dass wir manchmal die Filmemacherinnen und Filmemacher ermuntern müssen, mutiger zu sein.« Gibt es in der jüngeren Generation noch die Vorbehalte gegenüber dem Fernsehen? »Ich glaube, in diesen Kategorien wird überhaupt nicht mehr gedacht«, sagt Melvina Kotios. Kino oder TV sei »vielleicht eine Etatbezeichnung für uns, aber es ist ja klar, dass die Filme in der Mediathek erscheinen«.

Das »Kleine Fernsehspiel« beteiligt sich auch an der Initiative Forum Talentfilm Deutschland, die Kulturstaatsministerin Claudia Roth auffordert, mehr Geld für die Förderung von Nachwuchsfilmen bereitzustellen. Althoff kritisiert außerdem die Entscheidung der Berlinale-Leitung, die Sektion »Perspektive Deutsches Kino« zu streichen. »Diese Reihe hat eine lange Tradition, da wird eine Fläche im wichtigsten deutschen Festival gestrichen, die Sichtbarkeit erzeugt. Wir hoffen natürlich, dass diese Filme an anderen Stellen in der Berlinale Platz finden, aber wenn bei der Berlinale auch an anderen Stellen insgesamt 80 Filme weniger gezeigt werden sollen, entsteht natürlich Druck.« Die Entscheidung, die Nachwuchsreihe der Berlinale zu streichen, sei ein Alarmzeichen, sagt Althoff. In der aktuellen »Shooting Stars«-Reihe des ZDF mit acht Filmen sind auch zwei Filme vertreten, die in dieser Berlinale-Sektion gezeigt worden waren: »Geranien« von Tanja Egen und »Im Feuer« von Daphne Charizani. Alle acht Filme, darunter »Berlin Alexanderplatz« von Burhan Qurbani, sind in der ZDF-Mediathek abrufbar und werden noch bis 4. September ausgestrahlt.

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