Kritik zu Chiara

Clip OmeU © MUBI

Nach »Mediterranea« und »A Ciambra« ist »Chiara« der letzte Teil einer Trilogie über das Leben in Gioia Tauro, einer kleinen Hafenstadt in Kalabrien, in der Regisseur Jonas Carpignano lebt

Bewertung: 4
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Ein fünfzehnjähriges Mädchen in ihrer Welt, in der Familie und mit Freunden, im Sportstudio auf dem Laufrad, auf dem Heimweg, mit ihren beiden Schwestern zu Hause auf dem Sofa rumalbernd, vor der Schule mit ihren Freundinnen beim Lästern über andere Mädchen und ihre Auftritte in den sozialen Netzwerken, schließlich abends beim großen Fest zum 18. Geburtstag ihrer älteren Schwester. Sie wirkt ruhelos, wie ein Teenager auf der Suche nach seinem Platz, die Kamera ist ganz nah dran an ihr, als wolle sie ihre Gefühle seismografisch aufnehmen, als ahne sie, dass Erschütterungen bevorstehen. Tatsächlich markiert das Geburtstagsfest den letzten Tag der Unschuld, denn so wie für den kleinen Jungen in »Road to Perdition« kommt auch für Chiara der Moment, an dem die Schleier der heilen Welt reißen. An dem Abend, an dem das Auto ihres Vaters vor der Wohnung explodiert und er verschwindet, macht sie sich zum ersten Mal Gedanken, womit er eigentlich das Geld verdient. Aus den Nachrichten erfährt sie, dass er in die mafiösen Geschäfte der kalabrischen 'Ndrangheta verwickelt ist, dass er untergetaucht ist und auf einer Fahndungsliste steht. 

Sie hat viele Fragen, die von der Mutter, der älteren Schwester, dem Cousin blockiert werden, sucht aber beharrlich, wachsam und fordernd nach Spuren, bohrt unnachgiebig nach bei den Verwandten und entdeckt zu Hause eine geheime Tür in einer Wand, die zu einem unterirdischen Zimmer führt. Sie lässt sich nicht abfertigen mit den Ausflüchten der Erwachsenen, die sie wie ein Kind behandeln, behaupten, dass es besser sei, wenn sie nichts wisse, dass sie zu jung sei und keinen Grund habe, sich zu sorgen. Sie kämpft sich durch zu ihrem Vater, um ihn zur Rede zu stellen, und bringt mit ihrer Suche nicht nur ihn, sondern auch sich selbst in Gefahr. Denn die Jugendschutzbehörden greifen ein, wollen sie aus dem zersetzenden Einflussbereich der Mafia holen, in eine Pflegefamilie bringen. Es ist ein Ereignis, wie Swamy Rotolo diesen Prozess in ihrer ersten Rolle sichtbar macht, zugleich verletzlich, erschüttert und unnachgiebig wachsam, wie sie der Kamera die Stirn bietet und das Wechselbad ihrer Gefühle offenbart, ihre Unsicherheit, aber auch ihre Widerstandskraft in ihrer Suche nach der unbequemen Wahrheit. Die Erschütterungen ihrer gerade noch heilen Welt überträgt die Kamera von Tim Curtin ganz direkt in die Bilder, und die Tonspur vermittelt den Eindruck, als bewege sich Chiara in einer Blase, die sie zum Platzen bringen will, in der sie die Geräusche und Gespräche nur ganz entfernt und wie in Watte gedämpft wahrnimmt. 

Vor zwölf Jahren ist der gebürtige New Yorker Jonas Carpignano nach Gioia Tauro gezogen. Mit dokumentarischem Gespür fängt er das Leben dort ein, macht die Menschen, die dort leben, auf eine aufregend rohe und unmittelbare Weise zu Darstellern einer fiktiven Version ihres eigenen Lebens. Dass Chiara, ihre Schwestern und ihr Vater so authentisch wie eine liebevoll verbundene Familie wirken, hat auch damit zu tun, dass sie es in der Realität tatsächlich sind.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt