Die Moral des Betrachters

»Hotel Dallas« (2016)

»Europa ist, was wir daraus machen«, heißt es in einem Nachrichtenclip, der zu Beginn von »Europe, She Loves« des jungen Schweizer Filmemachers Jan Gassmann den Grundton anschlägt. Die Melodie freilich machen Alltagsbeobachtungen: Vier junge Paare von den Rändern des Kontinents (Dublin, Tallinn, Thessaloniki und Sevilla) gewähren sehr intime – bisweilen unangenehm voyeuristisch anmutende – Einblicke in ihr Leben zwischen Arbeit und Arbeitssuche, Drogen und Partys, Sex und Beziehungskonflikten. An seiner Ambition, die Lage Europas an diesen Konstellationen sichtbar zu machen, scheitert der Film trotz einiger bewegender Momente.

»Europe, She Loves« (2016). © 2:1 Film / lüthje schneider hörl FILM

Gegenwart und jüngere Geschichte Europas waren Thema vieler Filme im Panorama. Zurückhaltend beobachtet etwa der Litauer Mantas Kvedaravicius die Bewohner des umkämpften Mariupol in der Ostukraine. Ohne politisch Stellung zu beziehen, erzählt er vom Schwebezustand zwischen Krieg und Alltag. Immer wieder sieht man Hände: eines Schusters beim Flicken, einer Geigerin beim Üben, eines Soldaten beim Laden eines Gewehrs. Was für Mariupolis atmosphärische Abstraktion, ist für »Hotel Dallas« verspielte Fiktionalisierung. Als wohl ungewöhnlichste »Doku« im Panorama erzählt »Hotel Dallas« vom Übergang Rumäniens in den Kapitalismus – anhand der Serie »Dallas« und ihres Symbolcharakters für den Traum vom westlichen Leben. In einer Hauptrolle: Patrick Duffy.

»Hotel Dallas« (2016)

Im Vergleich zu solchen ästhetischen Strategien muteten die meisten anderen Dokumentarfilme der Sektion konventionell an. Mit journalistischer Nüchternheit überzeugten vor allem einige biografische Arbeiten, seien es Schilderungen homosexueller Identitätsfindung wie im Gewinner des Publikumspreises »Who's Gonna Love Me Now« über einen jungen Israeli, der mit 17 Jahren aus seinem Kibbuz ausgeschlossen wurde und in London nach Freiheit und Selbstbestimmung suchte, oder Künstlerporträts. Gleich dreimal ging es um Protagonisten der New Yorker Boheme: »Look at the Pictures« nähert sich dem provokanten Schaffen des Fotografen Robert Mapplethorpe, »Don’t Blink« ist eine rasant montierte Reise durch die Bilderwelten seines Kollegen Robert Frank. Der heute 91-Jährige versprüht darin respektlosen Witz, und Laura Israel schafft es bravourös, seinen Geist von Anarchie und rauer Poesie in Film zu übersetzen. Einem fast vergessenen Regisseur, seinem Onkel Howard Brook­ner, widmet sich Aaron Brookner in Uncle Howard. Seine Recherche in dessen bislang unerschlossenen Archiven zeichnet mit erstaunlichen Funden ein Wimmelbild der Szene um William Burroughs, ist aber vor allem eine Hommage an den schillernden Onkel, der mit 34 Jahren viel zu früh starb.

»Who's Gonna Love Me Now« (2016). © Heymann Brothers Films

Wie man gleichzeitig einer Biografie nachforscht, die eigene Arbeit reflektiert und daraus ein Kunstwerk ganz eigener Prägung und Kraft konstruiert, bewies freilich ein Film nicht aus dem Panorama, sondern aus dem Forum: Robert Greenes »Kate Plays Christine« scheint ein Spielfilmprojekt über Christine Chubbuck zu dokumentieren, jene Moderatorin, die sich 1974 im Fernsehen »live und in Farbe« erschoss. Der Film zeigt die Schauspielerin Kate Lyn Sheil, wie sie diese Rolle erarbeitet. Doch der vermeintliche Spielfilm ist lediglich ein Kunstgriff, um ein Spiegelkabinett der Bedeutungen zu entwerfen. Um das dunkle Zentrum des Suizids entsteht da eine großartige, verstörende Reflexion über das Wesen von Dokumentation und Inszenierung sowie über die Moral der Bilder wie des Betrachters.

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