Hunger nach anderen Träumen

Während meines Zivildienstes hatte ich das große Glück, häufig mit Schwester Margret zu arbeiten. Ihre Kenntnisse in Sachen Literatur, Musik, Theater und Kino schienen mir unerschöpflich zu sein. Wann hatte man in einer Kleinstadt schon die Gelegenheit, sich mit einer Person zu unterhalten, die »Boom« von Joseph Losey kannte? Ihre Lieblingsschauspielerin war jedoch Phyllis Calvert.

Margrets weitere Favoriten waren mir sehr wohl vertraut– James Mason, Stewart Granger und Margaret Lockwood -, aber von Calvert hatte ich nie zuvor gehört. Das war auch eine Generationsfrage. Meine kultivierte Freundin war nach dem Zweiten Weltkrieg vorwiegend mit britischen Filmen aufgewachsen. Ihre erste Arbeitsstelle hatte sie bei den Besatzungstruppen und somit Zutritt zum Kino der Garnison in Herford. Die Filme ihrer Idole konnte sie jedoch nicht nur dort sehen, sondern auch im regulären Kinoprogramm. (Ihre Freundinnen waren allesamt verschossen in Granger, aber Margret zog selbstredend Mason vor.) Kenner der britischen Filmgeschichte werden das Quartett längst eingeordnet haben: Das waren die Stars des Studios Gainsborough, das auf melodramatische Kostümfilme spezialisiert war. Vier Jahrzehnte später nannte Margret sie abgeklärt "Kostümschinken", an ihrer Verehrung für Phyllis Calvert jedoch hielt sie fest.

Es wäre gewiss spannend und aufschlussreich, einmal zu überprüfen, ob Filmgeschmack und -Kultur auf ähnliche Weise in den anderen Besatzungszonen geprägt wurde. In der sowjetischen ohne Zweifel sehr. Womöglich bevorzugte das Publikum in Süddeutschland ja lange Zeit französische Produktionen? Anscheinend wurden dort auch mehr Filmclubs nach französischem Vorbild gegründet als anderswo. Und dass in Frankfurt das erste Autokino Deutschlands entstand, verrät den amerikanischen Einfluss. In Berlin jedoch bündelte sich nach Kriegsende des Weltkriegs das Angebot der vier Kinematografien. Die Filmreihe "Zwischen Kriegsende und Neuanfang – Die Kinokultur der Alliierten in Berlin 1945/46" führt dies auf eindrucksvolle Weise vor. Sie läuft noch bis zum 3. Dezember im Zeughauskino sowie zwei Filmtheatern, die damals als Phönix aus den Trümmern aufstiegen: das Krokodil (seinerzeit noch Nord-Lichtspiele) und das Bundesplatz-Kino (ehemals Lichtspiele am Kaiserplatz). "Befreite Leinwände", der vortreffliche Katalog - tatsächlich ein ausgewachsenes Buch, das Zeug zum Standardwerk hat - ist bei Synema erschienen. Herausgegeben hat es Frederik Lang, der ebenfalls die Filmreihe kuratiert.

Im Vorwort schreibt er vom Hunger nach Bildern, nach anderen Bildern, der augenblicklich immens war: Wenige Tage nach Einstellung der Kampfhandlungen am 2. Mai eröffneten bereits die ersten Filmtheater wieder - und waren voll. Im September nahm sogar schon die Hälfte der ehemals 400 Kinos den Betrieb wieder auf. Ein regelrechter Rausch: zwischen Neuanfang und Kontinuität. Dem Publikum war es eingangs gar egal, dass die sowjetischen Filme, welche die Vorhut bildeten, ohne Untertitel oder Kommentar liefen. Bald wurde es anspruchsvoller. Die Westalliierten waren ihnen rasch auf den Fersen. „Es war der US-Regisseur John Ford“, schreibt Michael Pekler in seinem schönen Aufsatz über »The Hurricane« (...dann kam der Orkan, 1937), „der Berlin schneller erreichte als die von ihm so geschätzten US-Truppen.“ Dieses Überholmanöver war möglich, weil es sich wahrscheinlich um eine "Beutekopie" aus dem Reichsfilmarchiv handelte – Goebbels hatte bekanntermaßen zahlreiche Hollywoodfilme an sich gerissen, die er seinen Landsleuten zwölf Jahre lang vorenthielt.

Das Berliner Publikum konnte in den vier Besatzungszonen aus dem Vollen schöpfen, oder zumindest beinahe. Es hatte eine, wie Frederik Lang schreibt, einzigartige Auswahl, die damals größer war als irgendwo sonst in Europa, mit Ausnahme von Wien, wo ebenfalls der Viermächtestatus galt. Die Retrospektive rekonstruiert die historischen Berliner Programme, in denen vor dem Hauptfilm jeweils eine Wochenschau und ein Kulturfilm liefen. Die Titel der Wochenschauen annoncieren durchaus bereits programmatische Unterschiede: die der Westalliierten hieß "Welt im Film", die aus der SBZ »Der Augenzeuge«. Ihren Anfängen, an denen der spätere DEFA-Regisseur Kurt Maetzig federführend mitwirkte, widmet Anett Werner-Burgmann im Buch einen so ausführlichen wie erhellenden Essay.

Die Auswahl der Filme war anfangs vorwiegend der Verfügbarkeit von Kopien geschuldet - Kuratoren hatten die Alliierten nicht beschäftigt -, aber gesteuert werden musste sie natürlich schon. Eingangs bestimmt das Angebot über die Nachfrage. Aber bald zeigte sich beispielsweise, dass das Publikum filmische Umerziehung als Oktroy empfanden, dass es Dokumentarfilme über die Konzentrationslager Auschwitz und Majdanek sowie „Die Todesmühlen“ eher mied; Juli Raismans Dokumentarfilm über die Schlacht um Berlin wurde bald abgesetzt und erst im Mai 1946 erneut gezeigt. Mit dem Aufklären-und-Beschämen-Gestus der so genannten „Atrocity“-Filmen mochte es nicht konfrontiert werden. Die Aktualität entnahm es den Tageszeitungen, nicht den Wochenschauen, die dieser oft (womöglich auch gewollt) hinterher hinkten. Auch sowjetische Spielfilme über den Kampf gegen Nazideutschland standen bei den Berlinern nicht hoch im Kurs. Sie suchten Abstand.

Waren also nur Eskapismus und Unverfänglichkeit gefragt? Die musikalische Komödie »It started with Eve« (Die ewige Eva, 1941), der Auftaktfilm der Retro, verzeichnete in anderthalb Jahren immerhin mehr als eine halbe Million Zuschauer. Auch die musikalisch beschwingten Komödien von Grigori Alexandrow versprachen Zerstreuung. Vollends berechenbar war der Publikumsgeschmack indes nicht. Da gab es kulturelle Unterschiede. Die britischen Filme wurden vom Berliner Publikum zunächst eher abgelehnt (ein antibritischer Affekt noch aus Kriegszeiten?), das in Wien schätzte sie im Gegenzug sehr. Französische Filme wiederum wurden von der Kritik hoch gelobt, verzeichneten in der ungleich kleineren Besatzungszone, die nur Reinickendorf und Wedding umfasste, aber wahrscheinlich geringere Besucherzahlen. Reisten die Kinogänger, angespornt von begeisterten Rezensionen, viel herum in ihrem Berlin, das 1946 bereits die Einwohnerzahl von drei Millionen wieder überschritt? Vielleicht zogen sie doch ihre Bezirkskinos vor, die ihnen nun wieder vertraut werden durften? Im Herbst und Winter entschied womöglich schon das Versprechen der Kinos, beheizt zu sein, über die Auswahl des Films. Die Quellenlage ist nicht erschöpfend genug, um solche Fragen zu beantworten. Das Buch stützt sich neben offiziellen Dokumenten der alliierten Filmkommandaturen vor allem auf zeitgenössische Zeitungskritiken. Diese geben indes ein lebhaftes Bild ab von der wiederentdeckten Neugier und Schaulust. Das Publikum konnte eintauchen in Bilderwelten, die ihnen zwölf Jahre verwehrt blieben. Die Leinwände wurden wieder international. Auf jeden Fall hatten die Berliner im Kino die Möglichkeit, die Mentalität ihrer Besatzer kennenzulernen. Mehr darüber in einem folgenden Eintrag; das Thema ist groß.

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