Eine ungereimte Frau

Die Kriterien, nach denen Kinos die Szenenfotos für das Cover ihrer Programmhefte auswählen, beschäftigen mich seit Jahren. Soll es ein provokantes Bild sein, das Neugier weckt? Eines, das einfach durch seine Schönheit bestrickt? Oder gar eines, das wie ein Motto funktioniert, wie eine Essenz dessen, was im jeweiligen Monat läuft?

Die Programme des Berliner Arsenal bewahre ich mitunter tatsächlich wegen ihrer Umschlagfotos auf. Vor ein paar Tagen fiel mir das Heft vom Mai 2015 wieder in die Hände, auf dem eine junge Frau mit großen Augen und einem sachten Lächeln durch die Etagen eines Regals blickt. Es stammt aus "Ich bin zwanzig Jahre alt" und verweist auf die Retrospektive, die seinerzeit dem Regisseur Marlen Chuzijew gewidmet war. Der Blick der blonden Frau fasziniert mich: Er ist auf den Betrachter gerichtet, wie eine Begrüßung, eine freundliche Aufforderung, sich dem Abenteuer dieses Films (und der anderen, die laufen) auszusetzen. Das Motiv des kommenden Monats zeigt wiederum eine junge Frau, die das Publikum adressiert. Hier intrigiert nicht nur der Blick, sondern die Körperhaltung. Sie könnte eine Tänzerin, die sich vor- , mithin uns entgegenbeugt. Auch sie ist eingerahmt, zwischen einer Wand auf der Rechten und links möglicherweise einer Reihe von Umkleideschränken. Zwei Bildmotive ergeben noch kein Muster, aber auch diesmal verbinden sich eine Filmkarriere in der Sowjetunion mit weiblicher Anmut, die eingeengt ist. Vom 1. April an zeigt das Kino eine Retrospektive mit Filmen von Kira Muratowa, die in Rumänien geboren wurde und sich als Filmemacherin in Odessa niederließ.

Vor der Pandemie kursierte ihr Werk bereits auf Festivals (u.a. in La Rochelle) und in Filmmuseen (u. a. In Wien); nun ist die ukrainische Regisseurin erst recht reif für eine Wiederentdeckung. Was für ein furchtloses Temperament sie war, bewies sie bereits 1967 mit ihrem in agilem Schwarzweiß gedrehten Debütfilm »Kurze Begegnungen«. Mit einer ihrer zwei Hauptdarstellerinnen war Muratowa rein gar nicht zufrieden und ersetzte sie kurzerhand durch sich selbst. So stand die Regisseurin auch vor der Kamera für ihren sensiblen, autarken, randständigen Blick auf die Sowjetunion ein.

In ihren Filmen war diese unweigerlich eine Baustelle; nicht nur im metaphorischen Sinne. Ihre berühmteste Arbeit »Das Asthenische Syndrom« geriet 1989 zu deren Autopsie am noch lebenden Objekt. Diese Regisseurin filmte lieber isolierte Individuen als anonyme Massen. In ihrem Werk kreuzen sich die Einsamkeiten; gleichviel, ob sie Liebesgeschichten oder Familienkonflikte verhandeln. Sie können unvermutet lyrisch sein, entpuppen sich aber oft als großherzige Grotesken: Jede Figur hat das Anrecht auf ihren eigenen Monolog, selbst im prächtigen Wirrwarr der Hochzeitsgesellschaft in »Tschechow-Motive« von 2002.

Als sie die Schauspielerin Zina Sharko für die Rolle der geschiedenen, besitzergreifenden Mutter in „Langer Abschied“ besetzte, erklärte sie ihr, sie suche eine ungereimte Frau. Damit wird die Regisseurin auch ihre eigene Position im Filmgeschäft gemeint haben, dem sie trotz Zensur (dieser Film von 1971 durfte 20 Jahre nicht vorgeführt werden) und fragiler Finanzierung immer 16 Langfilme abtrotzte. Sie war eine Meisterin – etwa der filmischen Erkundung mentaler Räume, sei es in analytisch raumgreifenden Bewegungen wie bei der sublimen Kreisfahrt am Ende ihres Debüts oder in der Kombination mit einer rissigen Montage in der Konzertsaal-Szene aus „»Langer Abschied« -, die nicht Schule machen wollte. Der Wiederholung von Dialogsätzen und Gesten eignet etwas Obsessives. Bei aller Liebe für szenische Dissonanz scheint die 2018 verstorbene Regisseurin die Hoffnung auf Harmonie nie ganz aufgegeben zu haben. Als die Mutter in »Das Asthenische Syndrom« auf der Trompete "Strangers in the Night" spielt, stimmt sogar der Klassenfeind Bert Kaempfert mit ein.

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