Eine Sommernacht im September

Während meines Urlaubs auf Usedom unternahm ich noch eine weitere Zeitreise. Sie führte mich in die Vorgeschichte des Kinos. Das Vehikel dafür hatte auf einer Bühne Platz, die kaum einen Quadratmeter maß. Dort hatte die Leipziger Künstler Ulrike Richter ihr Papiertheater aufgebaut.

Von seinen Ausmaßen her mutete es an wie das Modell eines "echten" Bühnenbildes. Eine Miniatur: also ein intimes Schauspiel. Die im vorherigen Eintrag erwähnte, tatsächlich ja gänzlich unbescholtene Galeristin hatte zu ihm eingeladen. Im Vorjahr hatte ich es bereits an diesem Ort kennengelernt. Damals führte die Künstlerin Goethes Knabenmärchen "Der neue Paris" auf und schlug mich in ihren Bann. Sie ist eine Siegelbewahrerin des musikalischen Papiertheaters, spricht den Text der Vorlage, den sie auf ihrer Hakenharfe begleitet. In meinen Augen ist dies eine unbesungene Vorform des Kinos. In Ausstellungen ( beispielsweise in der Cinémathèque francaise) und Museen (dem "Museo Nazionale" in Turin), die sich mit dessen Prähistorie beschäftigen, habe ich bisher noch keinen Hinweis darauf gefunden. Aber es geht um bewegte Bilder. Für diese Bewegung sorgt die Spielleiterin (oder der Spielleiter), die die frontal ausgerichteten Szenenbilder wechselt und die Figuren im Vordergrund von den Seiten her ins Bild schiebt.

In diesem Jahr führte Ulrike Richter so Heinrich Heines Versepos »Atta Troll – Ein Sommernachts-traum« auf. Darin geht es um einen Tanzbären gleichen Namens, der eigentlich gar nicht tanzen kann, und den namenlosen Erzähler, der ihm bis ins Baskenland zwischen Frankreich und Spanien folgt, da in Deutschland zu Heines Zeit die Bären praktisch ausgestorben waren. Atta Troll wird von seiner Frau getrennt und sucht die Berghöhlen auf, in denen ihr Nachwuchs lebt. Er hat gelernt, die Menschen zu fürchten und zu verachten, ein früher Streiter für die Rechte der Tiere. Jäger sind ihm dicht auf den Fersen. Es ist zugleich eine Reise durch europäische Mythen (die Argonauten, die Artus-Sage) und die literarischen Zwistigkeiten aus Heines Zeit. Die Szenenbilder stammten diesmal nicht von Richter selbst, vielmehr griff sie auf eine Ausstattung von Linolschnitten zurück, die Christa Simon gestaltet hat. Dazu deklamierte sie mit vibrierender Strenge eine komprimierte Fassung von Heines Text., den sie mit zeitgenössischen Liedern (von Fanny Hensel, Chopin, Mendelssohn-Bartholdy, Giacomo Meyerbeer und Schumann) ergänzte. Jede Figur, jede Situation bekam eine eigene Melodie.

Im Vorjahr hatte sie dem Schauspiel eine kleine Einführung in die Geschichte dieser Kunstform, vorangestellt, die Anfang des 19 Jahrhunderts entstand. „Goethezeit“ hatte ich mir damals notiert. Auf ihrer Website (www.musikalischerbrueckenschlag.com) können Sie sich über ihr Repertoire und Aufführungstermine informieren. Einen kurzen historischen Abriss finden Sie auch im entsprechenden Wikipedia-Eintrag. Das Papiertheater war offenbar nicht nur in Deutschland, sondern auch in England weit verbreitet. Im Biedermeier diente es dem bürgerlichen Kulturerwerb, denn mit ihm konnten große Bühnenerfolge, darunter auch Opern (etwa von Meyerbeer), der Epoche adaptiert werden. Laut Wikipedia gab es diverse Verlage, die darauf spezialisiert waren. Das Miniaturformat eignete sich nur für ein begrenztes Publikum von maximal 60 Leuten. Die Stücke wurden vorwiegend in vertrautem, familiärem Kreis aufgeführt. Es handelt sich im Grunde genommen also um ein Heimmedium.

Die Hände der Künstlerin bzw. des Künstlers sind Teil des Schauspiels – also verhält es sich ein wenig so wie mit der Technik, die der Marionettenspieler in »Die zwei Leben der Veronika« offenlegt. Die Umbaupausen gehören zur Dramaturgie. An der Aufführung im letzten Jahr hatte mir besonders gefallen, wie Richter die erzählerische Bewegung von Goethes Märchen szenisch nachvollzog. Die Kulissen waren hintereinander geschichtet. Im ersten Teil entfernte sie nach und nach die Kulissen, um zum zentralen Schauplatz vorzudringen. Im zweiten fügte sie diese dann wieder hinzu, um schließlich an den Ausgangspunkt des Szenenbilds zurückzukehren. Einen solchen Kreisschluss ließ Heines Versepos nicht zu. Richter setzte es als Stationendrama vor wechselnden Landschaftskulissen in Szene. Eine gelegentliche Rückkehr war dabei nicht ausgeschlossen, was meist in einer veränderten Lichtstimmung geschah. Die Hintergründe wurden auch irrealer, phantasievoller. Ein eigentümliches Erlebnis, eine exquisite Erfahrung, die wagemutig unserer Zeit fällt. Ich bin auf das nächste Jahr gespannt.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt