Ein Seriengründer

Der Ort war schon mal klug gewählt: In Lyon, der Wiege des französischen Katholizismus, eine antiklerikal gestimmte Filmzeitschrift herauszugeben, verriet ausgeprägte Kühnheit. Der Zeitpunkt hingegen war verhängnisvoll: 1952, ein Jahr nach der ewigen Konkurrenz.

In der Wahrnehmung der cinéphilen Öffentlichkeit hat „Positif“ die Aufholjagd zu den „Cahiers du cinéma“ nie so recht gewonnen, in den Augen der Kenner hat sie es allerdings längst. Nehmen Sie das getrost als eine relativ unparteiische Aussage: Ich tauche im Impressum zwar noch immer als Deutschland-Korrespondent auf, erhalte aber nach wie vor keine Aufträge, für die ich ohnehin nicht honoriert würde. Heute bin ich freilich ganz Parteigänger, denn am Nachmittag erhielt ich aus Lyon die Nachricht, dass Bernard Chardère gestorben ist, der maßgebliche Mitbegründer von "Positif". Geld hatten er und seine Gesinnungsgenossen keins, aber dafür jede Menge cinéphilen Elan. Mit 92 Jahren hat er ein gesegnetes Alter erreicht. Er hörte nicht auf, dort zu schreiben, im Mai 2022 erschien sein letzter Artikel - ein Wunder an journalistischer Langlebigkeit.

Sie verdankt sich einer bewundernswerten Begeisterungsfähigkeit, aber auch einer erlesenen Streitlust. Die Feindschaft mit den "Cahiers" mochte er nie ganz aufgeben. Mal zähnefletschend, mal mit vollendeter Ironie wies er der Konkurrenz ihre Fehler, Widersprüche und Inkonsequenzen vor. Gern zitierte er dabei ehemalige Autoren der "Cahiers", etwa Francois Truffaut, der während ihrer maoistischen Phase die Frage stellte, ob sie sich nicht umbenennen sollte. (Ich bin gespannt, ob und wie die Zeitschrift dieser zentralen Figur der französischen Filmkultur nun wohl nachrufen wird.) Gleichviel, derlei rabulistische Agilität hat er seinem spiritueller Nachfolger Michel Ciment bei "Positif" vererbt, der inzwischen auch nicht mehr ganz jung ist, aber die redaktionellen Zügel nicht recht aus der Hand geben mag. Michel nannte ihn einmal einen "conservateur", was in der gemeinten Vieldeutigkeit im Deutschen leider nicht ganz aufgeht: ein Konservativer der Linken, und ein Bewahrer von Filmen, Filmgeschichte und der eigenen Gesundheit. Die Ehe von Alice und Bernard Chardère war ebenfalls langlebig, sie dauerte bis zu ihrem Tod 2016 und ist unter meinen französischen Kollegen legendär als fruchtbare Arbeitsgemeinschaft.

Aus diesem streitbaren Journalistenleben gingen weitere Zeitschriftengründungen ("Jeune Cinéma", "Premier Plan") sowie die von Filmclubs hervor, aber „Positif“ ragt als linke Antwort auf den apolitischen Formalismus der "Cahiers" heraus. Die frühen Grabenkämpfe zwischen den verfeindeten Kapellen der französischen Filmkritik (das war eben nicht nur ein Duell, der Feuerkopf legte sich auch mit der dogmatisch katholischen oder kommunistischen Kritik an) mögen für uns heute von vorwiegend historischem Interesse sein. Chardères anarchische, aufschließende Haltung bleibt jedoch beeindruckend. Sein Ehrgeiz zielte darauf, einen neuen, kultivierten, durchdringenden Blick auf das Kino zu werfen. Filmzeitschriften sollten in Frankreich den gleichen Rang haben wie die anerkannten Literaturzeitschriften. Beim Lesen, schrieb er einmal, habe er über das Kino ebenso so viel gelernt wie bei Schauen. Die Gründung in Lyon war ein unerhört dezentralistischer Gratisakt,  ganz im Sinne der Surrealisten, bei denen er und seine Mitstreiter in die Schule gegangen waren. Gleich im ersten Heft, einer kleinen Broschüre von 36 Seiten, gab es eine flammende Verteidigung von Luis Bunuels »Die Vergessenen«. Obwohl man einige Ausgaben später nach Paris umzog, blieb die Zeitschrift ihrer linken, antiklerikalen Linie treu. Mit Abstrichen bis heute. Jedenfalls blieb sie gefeit gegen die ideologischen und ästhetischen Metamorphosen der Konkurrenz. Während nachmalige Nouvelle-Vague-Regisseure wie Truffaut, Godard und Rivette in ihren Kritiken insgeheim schon die Filme beschrieben, die sie später drehen wollten, zielte der Ehrgeiz der "Positif"-Autoren auf cinéphile Präzision. Sie wollten keine Regisseure werden, sondern bessere Zuschauer.

Der unermüdliche Chardère trat zudem als Buchautor (sowie Kurzfilmregisseur) hervor. Eines seiner Spezialgebiete war der Dichter und Drehbuchautor Jacques Prévert, der auch seinen sprunghaften, so anspielungs- wie wendungsreichen Stil beeinflusste. Er verstand diesen Freigeist genau, vollzieht in »Le Cinéma des Jacques Prévert« akribisch nach, wie er sich der Konventionen bediente, um sie poetisch zu unterlaufen. Ein weiteres Feld seiner bezwingenden Kennerschaft waren die Brüder Lumière, die wie er aus Lyon stammten. Nun ja, ganz so lokalpatriotisch war diese Unternehmung nicht, denn Chardère wurde streng genommen in der Umgegend geboren, in einem bäuerlichen Milieu, das seine Arbeitsmoral prägte. Er widmete den Filmpionieren gleich mehrere Publikationen. Sein "Le Roman des Lumière" von 1995 ist die wahrscheinlich am besten recherchierte, materialreichste Monographie über sie. Auf deren Archive hatte er allerdings auch privilegierten Zugriff, denn 1982 gründete er auf Geheiß der Stadt zusammen mit Bertrand Tavernier das "Institut Lumière". Es pflegte seitdem nicht nur das photographische, filmische und industrielle Erbe der Brüder, sondern wurde zu einem der lebhaftesten Orte der Vergegenwärtigung der Filmgeschichte überhaupt. Inzwischen ist es auch der Verleger von "Positif", was eminente Fragen nach ihrer Unabhängigkeit aufwirft - Direktor Thierry Frémaux ist immerhin auch Chef des Festivals von Cannes. Aber dass Bernard Chardère die Rückkehr der Zeitschrift an ihren Ursprung noch miterlebte, wird ihm gewiss gefallen haben.

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