Die Schicksale einrenken

Es wäre Unfug, einen Maigret-Film in der Gegenwart anzusiedeln. Diese Figur ist an Sitten und Klima jener Epoche gebunden, die Claude Chabrol einmal "le temps Simenon" nannte. Sie verknüpft sich mit der Topographie eines Paris, in dem es noch kleine Geschäfte und Handwerksbetriebe gibt und die gesellschaftlichen Sphären sich nur begegnen, wenn ein Verbrechen begangen wurde. Das hat Patrice Leconte also schon mal richtig gemacht.

Sein »Maigret«, der letzten Donnerstag bei uns anlief, spielt Mitte der Fünfziger, mithin in der Zeitspanne zwischen 1930 und 1960, die sein Regiekollege meinte. Andere Romane von Simenon lassen sich ohne nennenswerten Schaden aus ihr lösen. Das ist Chabrol selbst bei "Betty" oder auch Cédric Kahn (»Feux Rouges«) und Mathieu Amalric (»Das blaue Zimmer«) bravourös gelungen. Aber die Gemächlichkeit des Kommissars stünde danach auf verlorenem Posten, zumal sie schon in ihrer Zeit ein leiser Anachronismus in den Büros am Quai des Orfèvres war. Lecontes Film wiederum fällt prächtig aus seiner Zeit, als eine dunkle Etüde der Nostalgie in CinemaScope und entättigten Farben. Im gegensatz zur französischen hat ihn die hiesige Kritik wohlwollend bis enthusiastisch aufgenommen. Einige Kollegen haben ihn gar zum Klassiker erklärt, obwohl er erst ein, zwei Jahre überdauert hat. Besonderes Lob erfährt Gérard Depardieus Darstellung, die den Putin-Freund, Steuerflüchtling und hedonistischen Rabauken in den Augen vieler Rezensenten rehabilitiert.

Martin Riepe betrachtet ihn im aktuellen Heft aus einer anderen Warte: Eigentlich habe man ihn ein wenig zu oft gesehen, aber das sei in Lecontes Film kein Nachteil. Für ihn verschmelzen Darsteller und Rolle nach einer Weile. Tatsächlich ist Maigret eine Figur, die auf Vertrautheit angelegt ist. Das serielle Erzählen des Fernsehens war da immer ein wenig im Vorteil, Rupert Davies und Bruno Cremer waren großartige Maigrets, Rowan Atkinson ist derzeit ein ganz erstaunlicher. Aber abgesehen von ihren ersten Inkarnationen im frühen Tonfilm, Pierre Renoir und Harry Baur (siehe "Keine voreiligen Schlüsse" vom 6. 2. 21), ging Maigret auch im Kino bald in Serie. Der kecke Luftikus Albert Préjean, der ihn während der deutschen Besatzung dreimal spielte (einiges ist bei Pidax auf DVD erschienen), war eigentlich eine komplette Fehlbesetzung. Stellen Sie sich einmal vor, Willy Fritsch hätte Dürrenmatts Kommisar in »Es geschah am helllichten Tag« gespielt. Aber Préjean entwickelte sich weiter, bei seinem dritten Auftritt in »Cécile ist tot« hatte er an der nötigen Gravitas gewonnen. Auch der mürrische Jean Gabin verkörperte ihn dreimal, aber er musste nicht in die Rolle hineinwachsen, sondern war von Anfang an ("Maigret stellt eine Falle") drin. Mit ihm wird Jules Maigret auf der Leinwand endlich auch zum Ehemann. Der größte Fehler wäre es, diesen wachsamen Verwerter des Menschlichen zu besänftigen, weshalb mir Heinz Rühmann in der Rolle nicht in bester Erinnerung ist.

Depardieus Maigret wird wohl ein Solitär bleiben, nicht nur wegen des enttäuschenden Einspiels in Frankreich, sondern weil der Filmtitel bereits eine Summe zieht. Aus Simenons Vorlage »Maigret und die junge Tote« haben Leconte und sein Co-Autor Jérome Tonnerre nur die Ausgangssituation übernommen, den rätselhaften Tod einer Unbekannten. Einige Handungselemente erinnern stark an »Maigret stellt eine Falle«, namentlich eine mariage blanche, eine nicht vollzogene Ehe, die hier jedoch einen anderen Dreh bekommt. Alles in allem sind es lässliche Veränderungen, die das Drehbuch vornimmt. Der belgische Autor war zwar der größte Stofflieferant des 20. Jahrhunderts, aber kein überragender Konstrukteur von Spannungsbögen. Er strukturiert seine Geschichten einfach nur freizügig um die Pole Ordnung und Chaos herum. Dinge geschehen, ziehen ihre Kreise und wirken auf Figuren und Publikum ein. Depardieu legt Maigret in der Tat archetypisch an, mit Ruhe, Gelassenheit und Melancholie. Er holt die eigentümlich humanistische Note in die traditionell pessimistische Tendenz des polar zurück: ein Einrenker der Schicksale, der den Strudel von Agonie und Absturz kennt, der Menschen zu verschlingen droht. Er steht auf der Seite der Gedemütigten und verlorenen Seelen. Er will die Täter nicht nur überführen, sondern verstehen.

So demütig konzentriert habe ich Depardieu seit seinem Kurzauftritt in Claire Denis' »Meine schöne innere Sonne« nicht mehr gesehen. Sein Maigret tastet sich langsam heran, was die Handkamera von Yves Angelo brillant unterstreicht, die durch die Szenerien schweift und dann die Requisiten im sachten Zoom fixiert. Bei der Polizeiarbeit geht es ja immer darum, nichts auszuschließen. Aber Maigret schließt ein. Die Unbekannte war frisch in Paris angekommen, eine Außenseiterin, weder ein Barmädchen noch eine Prostituierte. Die Schamhaftigkeit, mit der sie sich eingangs im Geschäft der Modistin entkleidet, spricht dagegen. Mit welchen Hoffnungen kam sie nach Paris, versprach sie sich ein aufregendes Leben, eine gute Anstellung oder Heirat?

Von Anfang an stellt die Montage eine starke Identifikation zwischen ihr und Maigret her, ein Band der Wehmut. Die Ermittlungen reißt der Kommissar fast exklusiv an sich, delegiert wenig an seine Assistenten. Auch die verzichtbaren Gänge erledigt er selbst, besucht regelmäßig nicht nur die Gerichtsmedizin, sondern auch das Archiv. Mit seinem schweren Leib und bei erheblicher Atemnot leistet Depardieu hier viel Beinarbeit, er scheut keine Treppe, die es zu erklimmen gilt. Sein Maigret sammelt sich (und die Indizien) in der Bewegung. Er muss die Witterung der Orte aufnehmen, verbindet sich mit ihnen ebenso eng wie mit den den Zeugen und Verdächtigen: eine zutiefst atmosphärische Darstellung.

Dass Maigret diesen Fall mit einer Hingabe verfolgt, die in persönlicher Betroffenheit grundiert ist, macht die Figur in meinen Augen ein wenig zu klein. Schließlich ist Simenons Kommissar einer, der auch versteht, was er selbst nicht erlebt oder erlitten hat. Aber Leconte und Co schöpfen daraus ein diskretes Pathos, das der Film aushält. Die Ermordete war im gleichen Alter, in dem die Tochter des Ehepaars Maigret nun wäre, die kurz nach der Geburt verstarb. Madame Maigret taucht am Grab der inzwischen identifizierten Unbekannten auf - aus Solidarität mit ihrem Mann und der geteilten Trauer. Sie hat nur ganz wenige Auftritte im Film, aber sie genügen um zu zeigen, dass die Eheleute einander begreifen. Es ist ohnehin ein Film der nur skizzierten Begegnungen zwischen Menschen, die wissen, was Verlust bedeutet. André Wilms, Veteran aus Lecontes erster Simenon-Verfilmung »Die Verlobung des Monsieur Hire«, hat hier seinen letzten Leinwandauftritt als Shoah-Überlebender. Auch mit Élizabeth Bourgine hätte ich mir noch mehr Szenen gewünscht, die als Besitzerin eines Modegeschäfts eine zärtliche Beobachtungsgabe beweist. Mithin ist sie eine hervorragende Zeugin: Die junge Unbekannte wollte die seidene Abendrobe so dringend, berichtet sie, als hinge ihr Leben davon ab. Aber warum ein Kleid aus der Vorkriegszeit, das viel eher zu ihrer Mutter gepasst hätte? So ist das oft in diesem Film: Die Fragen sind intrigierender als die Antworten.

Die engste, reichste Beziehung (neben der zur Toten) entsteht zwischen Maigret und der jungen Obdachlosen Betty (ein großes Versprechen: Jade Labeste), die ebenfalls in Paris ihr Glück sucht. Fast ist sie eine Doppelgängerin der Unbekannten, die Maigret später tatsächlich als Köder einsetzt, obwohl er ein tiefes Gefühl der Verantwortung für sie entwickelt. Ihre gemeinsamen Szenen sind Kabinettstücke der Vieldeutigkeit – ein älterer Mann, der Anteil nimmt am Leben einer jungen, schönen Frau -, die aber nie anstößig wirken, so sehr stimmt das Timbre der Momente und die Chemie zwischen den Darstellern. Sie stellt Maigrets Chance dar, wenigstens ein Schicksal noch einrenken zu können. 

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