Das Kinoglück der Halbfertigen

In der ersten Zeit nach Kriegsende fanden in Berlin noch keine Pressevorführungen für Filmkritiker statt. Sie gingen zusammen mit dem regulären Publikum ins Kino und dementsprechend sind ihre Rezensionen oft Zeugnisse von dessen Reaktionen. Das ist einer der Gründe, weshalb ich sie im Eintrag vom 31. Oktober „lebhaft“ nenne.

Zum anderen eignet ihnen eine leidenschaftlichen Teilhabe am Wiedererstehen, eine brennende Neugier auf das, was zuvor auf den Leinwänden unsichtbar geblieben war. Bei Friedrich Luft, der damals für den „Tagesspiegel“ schrieb, spürt man das besonders. Er schien die ganze Woche in Kinos zu verbringen (hatte er überhaupt noch Zeit fürs Theater?), muss rastlos von einer Besatzungszone zur nächsten flaniert sein. Ein Leitbegriff für das, wonach er Ausschau hielt, ist der „Spitzenfilm“. Seine Leserschaft soll Genugtuung empfinden, wenn dies Versprechen eingelöst wird. Mit den höheren Ansprüchen wächst das Selbstbewusstsein. Insgeheim schwelt eingangs noch der Verdacht, die wahren Spitzenfilme würden den Zuschauern noch vorenthalten – in der Tat, GONE WITH THE WIND läuft in der BRD erst 1953 an. Aber eigentlich steht der Kritiker bald vor dem köstlichen Problem der Wahl: Es gibt so vieles zu sehen, denn die Besatzungsmächte veranstalten einen „permanenten Filmwettstreit“.

Der Markt wird wetterwendischer. Womöglich vollzieht sich die Begeisterung ja in Wellen. Auf einmal werden die britischen Filme enthusiastisch angenommen. Nicht ausnahmslos, David Lean und Noel Coward stehen vorerst nicht hoch im Kurs, BRIEF ENCOUNTER (Begegnung) enttäuscht und die Mischung aus Transzendenz und Leichtfüßigkeit in BLITHE SPIRIT (Geisterkomödie) verwirrt. Die Kostümfilme von Gainsborough hingegen werden als „typisch englisch“ begrüßt. James Mason avanciert dank THE MAN IN GREY (Der Herr in Grau) und FANNY BY GASLIGHT (Gaslicht und Schatten) zum ersten internationalen Star des Berliner Publikums. Dabei hat es auch Gelegenheit, Phyllis Calvert kennen zu lernen, die Mason nach Strich und Faden peinigt. Das Idol meiner Freundin aus Zivildienstzeiten brilliert im Rollenfach der Arglosen. Ihre großen Augen können treuherzig, aber auch melodramatisch schauen; spannend wird es, wenn ihr Blick in Wehrhaftigkeit umschlägt. Allerdings verrät ihre Kinnpartie mehr Entschlossenheit, als ihre Figuren an den Tag legen. Im Programm von „Zwischen Kriegsende und Neuanfang“ trifft Mason an diesem Wochenende hingegen auf zwei Gegenspielerinnen, die ihre eigenen Entscheidungen treffen: Margaret Lockwood als tollkühne Straßenräuberin in THE WICKED LADY (Frau ohne Herz) und Ann Todd als traumatisierte Pianistin, die in THE SEVENTH VEIL (Der letzte Schleier) die Wegmarken ihrer Biographie unter Hypnose noch einmal durchlebt. Darin mag getrost man ein Gleichnis sehen auf die Katharsis, welche das Berliner Publikum nicht ausdrücklich sucht, aber manchmal eben doch findet. In ihrem Essay „Ruinenlandschaften der Seele“ wertet Brigitte Mayr auch zeitgenössische deutschsprachige Kritiken zu einem ganzen Korpus von Hollywoodfilmen über Psychoanalyse aus. Durchweg unbelastet kommen die Besucher also nicht aus den Kinos.

Am Beispiel von LES VISITEURS DU SOIR (damals unter dem Titel „Satansboten“ gestartet und später in „Die Nacht mit dem Teufel umbenannt) arbeitet Heike Klapdor den Aspekt des „Zeitenthobenen“ heraus, der nicht nur den Legendenfilm von Carné und Prévert auszeichnet, sondern darüber hinaus weitere französische Titel. Aus dem Hexagon laufen zudem etliche Filme, die in Paris von der deutschen „Continental“ produziert worden waren und dem Publikum zum Teil bereits in Synchronfassungen vertraut waren. Jedoch legten die Alliierten Wert darauf, dass sie „unbedenklich“ waren. Wie PREMIER RENDEZ-VOUS (Ihr erstes Rendezvous) diese Zensurschleuse passieren konnte, ist mir rätselhaft. Als Danielle Darrieux' deutsche Synchronstimme sich einmal empört, in dem Internat ginge es zu wie „in einer Judenschule“, hätten alle Alarmglocken schrillen müssen. Merkwürdigerweise erwähnt Frederik Lang diese Dialogpassage in seinem Aufsatz nicht.

An die Vergangenheit anknüpfen zu können – möglichst unmittelbar und ohne Stolpersteine -, wird ein starker Impuls des Kinopublikums gewesen sein. Die Rezeption von Eisensteins IWAN GROSNY (Iwan der Schreckliche) beschäftigt Patrick Holzapfel in seinem Essay: Man schließt mühelos wieder zum Regisseur von POTEMKIN auf, „als hätte es die Zeit dazwischen nicht gegeben“. Die Wiederbegegnung des Berliner Publikums mit jüdischen Darstellern, die es aus den Jahren vor 1933 kennen konnte, problematisiert Philipp Stiasny in einem Text voller Fragezeichen. In ihrer Presseschau aus dieser Zeit entdecken zahlreiche Autoren, dass die Vokabel „Exil“ tunlichst vermieden wird; auch Friedrich Luft, der sich beispielsweise über die Wiederbegegnung mit René Clair freut, umschreibt es und spricht lieber von „Langentbehrtem“.

Dem Publikum stand wohl auch eher der Sinn nach Filmen, die sie nur kurze Zeit entbehren mussten. Scharenweise strömte es in Filme aus der Welt, die gerade erst untergegangen war. DIE FRAU MEINER TRÄUME mit Marika Rökk brach in der Wiederaufführung Hausrekorde. Es nahm keinen Anstoß daran, wenn Darsteller aus der Nazizeit aktuell mit Auftrittsverboten belegt worden waren. Friedrich Luft schrieb heftig, aber vergeblich gegen diesen Nostalgieffekt an. Ein weiterer Spitzenreiter der unmittelbaren Nachkriegszeit war GROSSE FREIHEIT NR. 7, der ein Wiedersehen mit Hans Albers verhieß. Käutners Film ist ein besonderer Fall, war unter Goebbels nicht wohlgelitten, musste seine Premiere in Prag feiern. Als ich ihn vor ein paar Tagen sichtete, schien er mir plötzlich weniger von Fernweh zu handeln, als vielmehr der Sehnsucht nach Heimat. Das Hakenkreuz, das angeblich in ihm auftaucht, muss ich übersehen haben. Er warf aber noch eine andere, wenngleich nachrangige Frage auf. Zum Bonusmaterial der Blu ray von Universum/ Murnaustiftung gehört eine Vorschau aus dem Jahr 1945. Wurden unmittelbar nach dem Krieg bereits Trailer gezeigt, um die Neugier der Zuschauer zu schüren?

Das Filmprogramm sowie der Band „Befreite Leinwände“ behandeln einen Zeitraum von rund anderthalb Jahren. Den Endpunkt bildet der anstehende Start von Wolfgang Staudtes DEFA-Produktion DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, der erste Versuch des deutschen Films, sich moralisch zu rekonstruieren. Im Schlusskapitel des Buches liefert Frederik Lang eine ausführliche, akribische Chronik dieser Zeit der Umbrüche. Er zitiert nicht nur Kritiken, sondern lässt sporadisch auch Zuschauer und Zuschauerinnen in Tagebuchaufzeichnungen zu Wort kommen. Eine spricht von „uns Halbfertigen“, die wieder hinaus gehen müssen in die Trümmer, um aus ihnen die Stadt wieder aufzubauen. Diese Perspektive fehlte mir bis dahin. Gewiss, sie stellt ein anderes Forschungsgebiet dar, aber ein dankbares. Schwester Margret, meine Gewährsfrau für diese Epoche, wusste beispielsweise zu berichten, dass man in der ersten Zeit auch Brennholz oder Kohlen mitbringen konnte, wenn man kein Geld für Kinokarten hatte.

Beim Lesen des Buches und zumal im Schlussteil, der alles noch einmal Revue passieren lässt, hatte ich selten Trümmer vor Augen. Ich sah Kinosäle vor mir, gefüllte Zuschauerreihen, ein paar Schlangen davor, auch Zeitungsanzeigen und Filmplakate auf Litfaßsäulen. Und ich konnte mich nicht sattlesen an den Namen der Kinos. Oft genügten ihnen damals ein, zwei Silben genügten, um Exotik und Geselligkeit zu verheißen und den Zutritt zu anderen Welten: das Lida in Dahlem, das Olympia in Schöneberg, das Tivoli und Rivoli in Kreuzberg, das Cosima in Friedenau, welches heute noch wacker existiert. Auch ein Puck gab es irgendwo, ein Rio, ein Casino, ein Apollo, einen Prater, sogar ein Elyseum und selbstverständlich auch ein Phönix.

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