Ästhetische Zündschnüre

Cesare Zavattini war der festen Überzeugung, dass Jede und Jeder eine erzählenswerte Biographie hat. Dem Drehbuchautor von »Fahrraddiebe«, »Umberto D.« sowie »Und dennoch leben sie« schien das Alltägliche ertragreich genug fürs Kino und schienen die Straßen gepflastert mit Geschichten. Man versteht sofort, weshalb er der große Vordenker des italienischen Neorealismus war.

Bei diesem handelte es sich im Kern um eine Widerstandsbewegung, die den Bruch vollziehen wollte mit der Studiokünstlichkeit des italienischen Kinos der "weißen Telefone", das bis zum Kriegsende florierte. Er ging auch politisch auf die resistenza zurück: Zavattini entwickelte seine Ansprüche an ein realitätsnahes Kino während der Zeit der deutschen Besatzung. In einem Land, das in Ruinen lag und einen Neuanfang wagen musste, wollte er die Wirklichkeit freilegen und dazu den Schutt der Symbole und Metaphern beiseite räumen. Das Kino sollte zu einer Solidaritäts- und Empathiemaschine werden - ein Triumph erzählerischer Moral. Das war auch gedacht als Antithese zum Hollywoodkino, wurde von diesem aber umgehend, beispielsweise als Schauplatzrealismus im semi-dokumentarischen Film Noir, absorbiert. Dennoch blieb Zavattini vorerst Utopist.

In »L'amore in città« (Liebe in der Stadt) kam er seinen Idealen als Produzent und Mit-Autor 1953 verflixt nahe. Das Berliner Bundesplatzkino zeigt den wunderbaren Episodenfilm am Freitag (7.7.) im Rahmen seiner Italienischen Filmabende. Er sollte das Manifest eines neuen, bewussteren Kinos sein. Diese anthropologische Studie der Liebe in der modernen Großstadt griff Themen auf, die im katholischen Italien ein Tabu waren: die Prostitution (in der von Carlo Lizzani inszenierten Episode) und den Suizid (Michelangelo Antonioni). Dino Risis Elfminüter über sonntägliche Tanzvergnügen wird seinem hübschen Titel »Paradies für drei Stunden« wehmütig gerecht. Der Beitrag von Franco Maselli und Zavattini wiederum ist herzzerreißend. Federico Fellinis Episode über eine Heiratsvermittlungsagentur unterläuft verschmitzt den Charakter einer journalistischen Recherche; als Einziger arbeitet er mit professionellen Schauspielern. Mit Originalton wurde in Italien damals ohnehin kaum gearbeitet. Die Lichtsetzung von Gianni di Venanzo wirkt auch in den anderen Episoden überaus kunstfertig, die Kamerabewegungen sind präzise choreographiert.

Der Film sollte ursprünglich die erste Ausgabe einer in regelmäßigen Abständeen erscheinenden filmischen Zeitschrift mit dem Titel "Lo Spettatore" (Der Zuschauer) werden, woraus dann aber nichts wurde. Einflussreich war das lebhafte Experiment dennoch.

Von zersprengten, gleichwohl widerständigen Hoffnungen handelt auch eine Filmreihe, die am Samstag im Berliner Arsenal beginnt: »Ukrainische Träume« In neun Filmen, die zwischen 1927 und 2001 entstanden, gewinnt eine eigenständige Kinematographie (innerhalb des Sowjetkinos) hier Kontur. Wie reich an Facetten und Texturen sie ist, lässt sich bis Ende August entdecken. Neben Sergej Paradschanows »Die Feuerpferde« bzw. »Schatten vergessener Ahnen« (siehe "Im Prinzip ja" vom 17. 12. 2018) läuft ein Nachschlag zur Kira-Muratova-Reihe, die kürzlich im Kino am Potsdamer Platz lief, aber auch eine farbige Science-Fiction-Eskapade. Es werden Schätze geborgen, aus aktueller Relevanz heraus und filmhistorischer Neugier. Von einer waschechten Schatzsuche handelt Aleksander Dovzenkos „Zvenyhora“ (Der verzauberte Wald), der am Samstag mit einer Einführung von Barbara Wurm und Bandura-Musikbegleitung gezeigt wird. Es ist der Auftakt der "Ukrainischen Trilogie" des Regisseurs, die einige Jahre später in »Erde« gipfelt. Laut der Kuratorin legt er ästhetische Zündschnüre aus. Welch treffliche, verheißungsvolle Formulierung! Cesare Zavattini hätte sie bestimmt gefallen.

 

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