Entgrenzung

Es wurde viel geraucht in den 1980ern; erst recht in Theaterkreisen und im Schauspielatelier von Les Amandiers offenbar ganz besonders. Die Schauspielschüler qualmten bei den Proben, im Zuschauersaal, in allen Lebenslagen. Valeria Bruni-Tedeschi musste etlichen ihrer jungen Darsteller erst einmal beibringen, wie man das überhaupt macht. Louis Garrel, der in ihrem Film Patrice Chéreau verkörpert, weigerte sich anfangs, dessen unverzichtbare Zigarillos in den Mund zu nehmen, aber seine Regisseurin war da unerbittlich.

Es wurde offenbar auch viel getanzt in Les Amandiers, sehr viel sogar. Die Gemeinschaft wurde zusammengeschweißt durchintensive Lockerungsübungen. Wenn man diese Choreographien heute im Making of "Des Amandiers aux Amandiers" betrachtet, kann man nicht genau unterscheiden, ob dabei die Körper nun entfesselt oder dressiert wurden. Ein mitreißendes Spektakel sind sie allemal, und es ist gut möglich, dass in ihrem Verlauf die Angst und Scham verflogen, sich auszudrücken. Bruni-Tedeschi, die als Schauspielerin später ein wunderbares Gespür für Peinlichkeit (und deren Überwindung) bewies, wird diesen Freiraum enorm geschätzt haben, den Patrice Chéreau seiner Klasse bereitete. Von dessen Genie hat sie sich nie ganz erholt.

Es hätte in ihrem Film noch viel schlimmer kommen können in Sachen Verklärung und Identifikation. Zeitweilig überlegte die Regisseurin, selbst eine Hauptrolle zu übernehmen: die eines weiblichen Chéreau. Ursprünglich wollte sie ihren Film »Les Dieux de l' Olympe« nennen. Die vorangegangenen Regiearbeiten, in denen sie sich eingenommen von der eigenen Biographie zeigte, bewiesen robustere Selbstironie. Welches Glück also, dass sie sich für »Les Amandiers« (Die Mandelbäume) entschied! Der Titel ist offener, vertraulicher, diesseitigerer. Und er evoziert diskreter den Genius des Ortes. Aber im Olymp mochten sich die Schüler tatsächlich dort gefühlt haben. Sie waren Auserwählte. Sie durften sich im "Zentrum Europas" wähnen, hatten Teil an einer "gesegneten Epoche des Theaters". So konnte man es lesen in den ersten Artikeln, die in "Libération","Le monde" und anderswo zur Premiere in Cannes erschienen. In der Tat war die Schule ein Fischteich der Talente, die später nicht nur Chéreaus Filme bereicherten, sondern ab Mitte der 1990er auch das Kino der französischen Nouvelle Nouvelle Vague. Agnès Jaoui, deren filmisches Alter ego Anais heißt und einmal von Chéreau gedemütigt wird, gehörte zu den wenigen, die ihre Lehrzeit nicht verherrlichen mochten. Ihr gelang rechtzeitig der Absprung aus dem Olymp.

Ihre Kommilitonen erlebten dort nicht nur ihre éducation théatrale, sondern auch eine éducation sentimentale. Das Spiel griff nach dem Leben. Die gemeinsame Arbeit war ein Terrain der romantischen und erotischen Anbahnung. Es sei Thierry Ravel gewesen, ihr 1991 verstorbener Lebensgefährte, der sie drängte, den Film zu machen, sagt die Regisseurin im Making of. Aber der Geisterbeschwörungen war im gestrigen Eintrag genug. Heute geht es darum, wie die Wirklichkeit nun den von Chéreau inszenierten Fiebertraum kreativer Grenzgänge imitiert. Im Französischen nennt man diese Spiegelung von Leben und Kunst mise-en-abyme. Da steckt nicht von ungefähr der Begriff Abgrund drin.

Die Dreharbeiten zu »Les Amandiers« seien ohne Komplikationen verlaufen, erklärten die Regisseurin und ihre Produzenten, als die gestern skizzierte Empörungswelle über sie hineinbrach. In den Aussagen der von !Libé" interviewten Mitwirkenden erscheint die Produktion jedoch in einem anderen Licht. Bruni-Tedeschi habe eine regelrechte Omertà verhängt: Angeblich durfte niemand am Set über die Anschuldigungen gegen den Hauptdarsteller Sofiane Bennacer sprechen – gewissermaßen als Schutzmaßnahme fürs Arbeitsklima. Aber es war mehr im Spiel. Wenige Tage nach dem ersten Scoop meldeten die französischen Medien, Bennacer sei Bruni-Tedeschis aktueller Lebensgefährte. Ihr Löwenmutterkampf erhielt dadurch noch einmal eine neue Farbe. Franck, ein französischer Kollege, schrieb mir dazu in einer Mail: Im Film erzählt sie vom realenTod ihres damaligen Geliebten, nun erlebt sie den sozialen Tod ihres jetzigen.

Gegen seine Besetzung spricht das selbstredend nicht. Er passt gut zum Typ des beau ténébreux, des leicht düsteren, geheimnisvollen Schönen, der sich nicht zähmen lässt. Vor ein paar Jahren hätte man in dem Fach noch Louis Garrel besetzt. Bruni-Tedeschi selbst hat es getan, in früheren Filmen und als er wiederum ihr Lebensgefährte war. Bevor man jetzt über ein Beuteschema der Regisseurin spekuliert, sollte man festhalten, dass dieser Rollentyp eher eine träge Konvention des französischen Kinos ist. Allerdings fängt die Verschlingung von Kunst und Leben inzwischen an, mir mulmig zu werden. Die oben erwähnte Anais wird von Louis Garrels Halbschwester Lena gespielt. Die Regisseurin des Making of ist die Ehefrau von Vincent Perez, Bruni-Tedeschis ehemaligem Kommilitonen in Les Amandiers (und zeitweiligem Partner ihrer Schwester Carla Bruni). Dass eine Tochter der Produzentin im Film mitspielt, fällt hingegen wohl in die Kategorie des lässlichen Nepotismus. Gleichviel, alles in allem eine reichlich inzestuöse Konstellation. Vielleicht auch einfach ein Zusammenhalten der Clique der Überlebenden von Les Amandiers. So oder so geht es um Deutungshoheit.

In einer Kolumne für "Le monde" geht die Essayisten Mona Chollet auf diesen hermetischen Aspekt des Films ein. Sie argumentiert, Bruni-Tedeschi habe die Machtstrukturen in der Schule nicht wirklich begriffen und wiederhole deshalb das alte patriarchale Schema. Sie verteidige die Wertvorstellungen ihrer Generation und käme gar nicht auf die Idee, der Kuss, den Chéreau einem Schüler aufdrängt, sei sexuelle Belästigung. In damaligen, im Making of zitierten Aussagen der Schülerin Bruni-Tedeschi macht sie einen weiblichen Masochismus aus. Die Regisseurin ist für sie eingeschlossen in ihrem Traum, in ihrer Nostalgie. Es wäre zu wünschen, dass wir dies selbst überprüfen können, falls »Les Amandiers« hier zu Lande herauskommt.

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