Eine Geisterbeschwörung

Die Regisseurin kann nicht an sich halten. Hinter der Kamera spielt sie unaufhörlich mit. Sie ist hingerissen von dem, was passiert. Aber an wen richtet sich ihre Inbrunst? In der Sichtachse ihrer Darsteller befindet sich Valeria Bruni-Tedeschi wohlweislich nicht. Aber bestimmt agiert sie nicht nur für das Kamerateam des Making of. Eher schon, um auf dem Set eine Atmosphäre unausgesetzter Verzückung und Anspannung zu schaffen.

Gleichviel, sie ist ergriffen, von allem, und vielleicht am stärksten von der eigenen Nostalgie. Wie in ihren bisherigen Regiearbeiten nimmt Bruni-Tedeschi auch in »Les Amandiers« ihre eigene Lebensgeschichte als Brennstoff der Fiktion. Ihr neuer Film handelt von ihren Lehrjahren an der gleichnamigen Schauspielschule, die Patrice Chéreau und Pierre Romans in den 1980er in Nanterre geründeten. Bruni-Tedeschi wurde 1986 zusammen mit Marianne Denicourt, Agnès Jaoui, Vincent Perez, Bruno Todeschini und anderen in dieses Labor der Avantgarde und Entgrenzung aufgenommen. Chéreau genügte es nicht, gute Darsteller und Darstellerinnen auszubilden, sondern solche, die Risiken eingehen. Das Spielen als Krise und Therapie: eine Unternehmung, die ungestüm aufgeladen ist mit Romantik und Exzess. Die Epoche spielt lebhaft mit, Drogen und AIDS fordern Opfer unter den Schauspieleleven und -elevinnen. Bruni-Tededischis damaliger Lebensgefährte Thierry Ravel, der im Film Étienne heißt und zu gewaltsamen Eifersuchtsausbrüchen neigt, stirbt 1991 mit 28 Jahren an einer Überdosis.

In »Des Amandiers aux Amandiers«, dem Making of des Films, gewinnt man einen starken Eindruck von dem Tumult, in den sich Leben und Kunst hier begeben. Derzeit ist er nur in der Mediathek von arte Frankreich (arte.tv.fr) zu sehen. (Der Sender hat den Film mitproduziert.) Aber wenn bzw. falls "Les Amandiers" in Deutschland startet, wird er sicher auch in einer untertitelten Fassung greifbar sein. Der männliche Hauptdarsteller Sofiane Bennacer spielt darin eine erstaunlich untergordnete Rolle. Gewiss, er ist bei den Proben und Dreharbeiten als ein Ensemblemitglied zu sehen, in den geführten Interviews jedoch sind seine Partner und Partnerinnen ungleich präsenter. Erst nach gut einer halben Stunde antwortet er ein, zwei Mal knapp auf Fragen. Das Making of verschweigt ihn also nicht ganz. Aber es verschweigt, dass seine Anwesenheit die Dreharbeiten überschattete, insgeheim, aber massiv.

Einige Monate vor ihrem Beginn im Sommer 2021 erstattete eine ehemalige Kommilitonin Anzeige gegen ihn. Sie beschuldigt ihn der Vergewaltigung. Drei weitere Ex-Freundinnen erstatteten Anzeigen wegen sexueller Gewalt.Die Ereignisse sollen sich in den Jahren 2018 und 2019 während Bennacers Ausbildung und späteren Engagements an den Theatern in Mulhouse und Strasbourg zugetragen haben. Als »Les Amandiers« im Frühjahr in Cannes Premiere feierte, war von den Anschuldigungen noch nicht die Rede. Der Aspekt der Hommage, die Bruni-Tedeschi ihrem Lehrmeister erwies, stand im Vordergrund und war "Le Monde" und anderen Tageszeitungen lange Geschichten wert. Erst kurz nach dem Frankreichstart Mitte November wurden die Anschuldigungen publik. Am 22. November landete „Le Parisien“ mit der Meldung einen Scoop, im Oktober sei ein Ermittlungsverfahren gegen Bennacer eröffmet worden. Drei Tage später widmete „Libération“ der Afäre einen Aufmacher von vier Seiten, der auf umfangreichen Recherchen beruht und die Klägerinnen zu Wort kommen lässt. In der französischen Presse und Öffentlichkeit brach ein Sturm los. Ich muss gestehen, dass ich ihn im November nur am Rande mitbekam, abgelenkt war von einem sichtungs-, recherche-und arbeitsintensiven Text. Meine Aufmerksamkeit gewann er erst, als ich eine Mail von der französischen Filmakademie erhielt, die seinen Namen umgehend aus der Liste der "Révélations" (Entdeckungen) strich, welche bei der kommenden César-Verleihung vorgestellt werden sollen.

Die Regisseurin stellte sich in einem ersten Kommuniqé bedingungslos vor ihren Hauptdarsteller, der sie beim Casting augenblicklich überzeugt hatte und an dem sie trotz aufkommender Gerüchte festhielt. Den Medien warf sie Lynchjustiz vor und mangelnden Respekt gegenüber der Unschuldsvermutung. Auch sie sei in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden, natürlich fühle sie mit Opfern, aber über das Schicksal dieses "jungen Mannes" (eine merkwürdig matriarchale Diktion) sollten die Gerichte entscheiden. Bennacer selbst bestreitet die Anschuldigungen vehement. Er sieht sich als Opfer einer Kampagne und eigentlich auch der Gesellschaft: Er stammt aus einfachen Verhältnissen in Marseille, nun würde man ihm zu verstehen geben, dass er keinen Platz in diesem Milieu habe; die Vorwürfe gegen ihn trügen auch unverhohlen rassistische Züge.

Nach den ersten Enthüllungen ließ "Libération" nicht locker. In folgenden Artikeln ging es um die Frage, ob und in welchem Umfang die Produzenten im Vorfeld von den Vorwürfen gewusst hätten. Anscheinend hatten einige Praktikanten der Produktion früh Kenntnis von ihnen. Den Co-Produzenten Patrick Sobelman habe ich als einen honorigen und achtsamen Menschen kennengelernt. Ein solches Auftreten fällt womöglich leichter, wenn man es mit Journalisten zu tun hat. Aber bei unserer Begegnung in den Büros der Produktionsfirma Agat Films geschah dies ohne Not; er hatte keinen neuen Film zu vertreten und musste mir auch sonst nichts verkaufen. Dass »Les Amandiers« entstand, ist zu einem Gutteil seinem Glauben an den Stoff sowie dem Engagement seiner Mitproduzentin Alexandra Henochsberg zu verdanken, deren Firma Ad Vitam den Film in Frankreich auch vertleiht. Von den Anschuldigungen erfuhren sie am 2. Drehtag. Auf Anfrage von "Libé" erklärte Sobelmann, es hätte - einzig auf Grund einer eingereichten Klage - keine arbeitsrechtliche Handhabe gegeben, Sofiane Bennacer zu entlassen oder gar die Dreharbeiten abzubrechen, was die Auflösung der Verträge mit den rund 70 Mitwirkenden der Produktion bedeutete hätte. Die Besetzung des Hauptdarstellers hatte die Regisseurin gegen die anfängliche Skepsis der Produzenten durchgesetzt, was diesen während des Drehs als eine künstlerisch unbedingt gerechtfertigte Entscheidung erschien.

Nun müssten sie damit leben, dass der Film nicht die erhofften 300000 Kinogänger erreichen würde, sondern voraussichtlich zwei Drittel davon. »Les Amandiers« startete am 16. November erfolgreich (auch getragen von vorwiegend exzellenten Kritiken) in zunächst 287 Kinos, deren Anzahl in der Folgewoche auf 411 Kinos erhöht wurden. Nachdem derweil die Vorwürfe publik geworden waren, schrieb Ad Vitam sämtliche Kinoleiter an und stellte ihnen frei, den Film ohne vertragsrechtliche Konsequenzen abzusetzen. Der Verleih ermutigte sie zugleich, Debatten mit dem Publikum zu zu führen. Es gebe einen Skandal Bennacer, aber keinen Skandal »Les Amandiers«, räsonnierten die Produzenten. In den letzten Novembertagen nahmen 16 Filmtheater den Film aus dem Programm. Fünf Wochen nach dem Start überschreitet er gerade die Marke von 200000 verkauften Eintrittskarten.

Er bekommt also an den französischen Kinokassen durchaus seine Chance. So oder so ist er ein Ereignis. Unschuldig lässt er sich nicht mehr betrachten, sehr wohl aber diesseits der Sensationslust. Les Amandiers ist ein mythischer Ort in der jüngeren französischen Kulturgeschichte, fast ein Nationalheiligtum: eine Schule, die als Utopie konzipiert war, als ein Treibhaus der Kreativität mit eigenen, womöglich gefährlichen Gesetzen. Wie durchlässig dort die Grenzen zwischen Leben und Arbeit waren, ist nicht nur das Thema von Bruni-Tedeschis Film, sondern auch Bedingung seines Entstehens. Mehr im nächsten Eintrag.

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