Alles auf Anfang

»Hafen im Nebel« (1938)

Augenblicklich ist das U-Bahn-Fahren eine eher trostlose Beschäftigung. Berlin ist dieser Tage eben ziemlich grau. Aber das Warten auf den Bahnsteigen bereitet mir Freude, denn Jean Gabin und Michèle Morgan schauen mich allerorten mit vollendeter Wehmut an.

Bestimmt kennen Sie das Bild der Zwei aus »Hafen im Nebel«: Er trägt die Uniform eines Infanteristen (obwohl er eigentlich gerade desertiert ist) und sie einen durchsichtigen Regenmantel und eine Baskenmütze. Sie haben Zuflucht in der Baracke von Panama gefunden. Der Wirt heißt so, weil er gern den gleichnamigen Hut trägt, und die Sehnsucht nach dem Anderswo war schon 1938 eine mächtige Triebfeder des französischen Kinos. Durch ein Fenster blicken sie einer unsicheren Zukunft entgegen. Das Szenenfoto ist eine, nein die Ikone des Poetischen Realismus. Als Postkarte heftete es lange an der Wand meines zweiten Studentenzimmers. Nun ziert es das Plakat der Reihe, die das Babylon dem filmischen Strömung der 30er Jahre widmet, in der sich Aufbruch und Pessimismus die Waage halten.

Der Filmzyklus trägt den Titel »La Grande Illusion«. Weshalb er so heißt, ist mir zur Hälfte schleierhaft. Gewiss, er geht auf Jean Renoirs gleichnamigem Film zurück, aber schon bei dem war wir nie ganz klar, weshalb er diesen Titel trägt. Worin besteht diese Illusion, und was macht sie groß? Ich nehme allerdings an, dass Renoir und der Drehbuchautor Charles Spaak ihre Gründe hatten. Und er ist seitdher eine Marke mit sofortigem Wiedererkennungswert geworden.

Die Epoche gilt als das Goldenen Zeitalter des französischen Tonfilms. Ökonomisch war sie zunächst eine Zeit der Krise. Die mächtigen Konzerne Gaumont und Pathé waren ins Schlittern geraten und die Produktionslandschaft war ziemlich unübersichtlich. Zuweilen wurden Firmen nur zu dem Zweck gegründet, einen einzigen Film herzustellen. Da war kreativer Wildwuchs möglich. Zugleich war Antisemitismus erstaunlich verbreitet; auch Renoir verfiel ihm zeitweilig. Dennoch konnten Exilanten wie die Kameraleute Curt Courant und Eugen Schüfftan das Antlitz des französischen Kino maßgeblich prägen. Durchaus also eine Periode ästhetischer und thematischer Offenheit, die den Puls der Zeit nahm und ihrerseits den italienischen Neorealismus und den amerikanischen Film Noir beeinflusste. Beim Besuch der Filmreihe kann man eintauchen in eine Stimmung sublimer Melancholie, wenngleich die frühen Tonfilme René Clairs von einer munteren Unternehmungslust getragen sind, die den Optimismus vorwegnimmt, der kurzzeitig durch den Wahlsieg der Volksfront das Land ergriff. Marcel Carné mochte den Begriff „Poetischer Realismus“ nicht, er zog die Alternative "le fantastique sociale" vor. Renoir missgönnte ihm seinen Erfolg übrigens enorm, wie ich unlängst einer schönen und akribisch recherchierten "Grapic Novel" über ihren gelegentlich gemeinsamen Drehbuchautor Jacques Prévert entnahm. Schön, dass der wenigstens einmal in diesem Text vorkommt, denn ohne ihn wäre diese Kinoepoche nicht so prunkend gewesen, wie sie nun einmal war.

Im Babylon laufen Arbeiten der üblichen Verdächtigen. Neben Carné und Clair sind Jean Grémillon und Jacques Feyder vertreten, ein Hauptgewicht liegt auf Renoir und Julien Duvivier ist als Gegengift hinreichend präsent (ihn würdige ich ausführlich in meinem Eintrag "Die Rücksichtslosigkeit des Schicksals" vom 10. Oktober 2016 und freue mich besonders, dass »La fin du jour« zu sehen ist). Als Überblick mag das genügen. Aber es wäre schön gewesen, wenn das Babylon den Kanon erweitert hätte, etwa um »Dans les Rues« von Victor Trivas und »Coeur de Lilas« von Anatole Litvak (Migranten), denen es weder an Poesie noch an Realismus mangelt.

Selten zu sehen und deshalb empfehlenswert ist Renoirs »Toni«. 1935 war er noch ein ziemlicher Solitär. In Paris galt er als ausländischer Film, erinnerte sich der Regisseur später. Dieser Trugschluss war nicht dumm: Das Leben zeigt sich anders in »Toni«, als französische Zuschauer es aus dem bürgerlich-psychologischen, gern noch theaterhaften Kino kannten. Die Gefühle, Gesten und Schauplätze atmen Wirklichkeit. Aus der Zeitungsmeldung über ein Verbrechen aus Leidenschaft macht Renoir eine unaufgeregte Chronik des Alltags von Fremdarbeitern im Midi. Der Film war ein entscheidender Wegbereiter des Neorealismus. Dazu musste Renoir sich nicht einmal neu erfinden: Die Moral menschlicher Beziehungen wusste er auch hier im Fluss des Lebens aufgehoben. Ich gehe auf ihn ausführlicher ein, damit am Ende niemand behaupten kann, meine Vorbehalte gegen diesen Regisseur seinen bedingungslos und unwiderruflich.

Mit den großen Regisseure muss man alle 12, 15 Jahre wieder neu anfangen, sagte mir vor einiger Zeit Frédéric Bonnaud, der neue Leiter der Cinémathèque francaise, in einem Interview. Nur so könne man sie ins Bewusstsein der nächsten Zuschauergeneration bringen. Die Pariser Institution führt das momentan seit vorgestern gerade mit einer groß angelegten Sam-Fuller-Retrospektive vor. Man müsste annehmen, der gehöre in Frankreich eigentlich zu den Ewigkeitswerten der Cinéphilie. Aber die Cinémathèque nimmt sein Werk (auch als Drehbuchautor und Schauspieler) so in Angriff, als müsse sie bei Null beginnen. Alles auf Anfang: mit Vorträgen, Diskussionsrunden, neuen DVD-Ausgaben und gleich vier neuen Büchern über den Hollywood-Maverick. Bonnaud sagte in unserem Gespräch auch, er fürchte, Filmgeschichte brauche heutzutage immer eine Legitimation, man müsse Kontexte und Ereignisse schaffen.

Ein hier zu Lande nicht ganz unbeachtetes Ereignis war die letztjährige Retrospektive des Festivals von Locarno. Sie stellte Jacques Tourneur der nächsten Zuschauergeneration vor. Im Anschluss spielten einige Schweizer Kinos und Kinematheken die Filmreihe nach. Im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt läuft seit Anfang der Woche eine klug abgespeckte Version der Retro, mit zwölf Titeln. Es sind nicht nur seine bekannteren Arbeiten darunter (also „Katzenmenschen“, »Ich folgte einem Zombie«, »Out of the Past«/»Goldenes Gift«), sondern auch entlegenere Titel (»Easy Living«, »Stars in my Crown», »Nightfall«), besonders gespannt sein darf man auf das Frühwerk »Nick Carter, Master Detective«. Ich glaube nicht, dass Tourneur ein Fall nur für Hardcore-Cinéphilie ist. Im letzten Monat hatte ich das Vergnügen, eine Einführung zu »I walked with a Zombie« halten und war erfreut, wie zahlreich und neugierig das Publikum war. Frank Arnold schreibt im aktuellen epd-Heft über die Frankfurter Reihe. Aber es schadet ja nie, eine zweite Meinung zu hören. Deshalb eine kurze Hommage an diesen sanften Fürsten der Finsternis von mir.

Er war er davon überzeugt, dass die Angst eine intime, private Erfahrung ist. Das unterscheidet ihn vom Großteil der Horrorfilmregisseure. Tourneur inszeniert den Schrecken in seinen Gruselfilmen diskret und voller Feingefühl. In »Cat People« kristallisiert sich sein Stil mustergültig heraus: Bei ihm darf die Bedrohung unsichtbar bleiben und sich entfalten im atmosphärischen Wechselspiel von Finsternis und Seelenerforschung.

Der Pakt, den Tourneurs Filme mit der Phantasie des Zuschauers eingehen, ist respektvoll und verbindlich. Diesem Regisseur genügt die Andeutung, er kennt die Macht der Suggestion. Diese Zurückhaltung hat ihn in Hollywood zu einem Meister ohne Schüler werden lassen, der allerdings illustre Bewunderer fand. Dieser Reigen umfasst so unterschiedliche Filmemacher wie Pedro Costa, Martin Scorsese und Bertrand Tavernier; gerade erst hat Marco Bellocchio dessen »Cat People« in »Träum was Schönes« seine Reverenz erwiesen. Sie schätzen Tourneur als einfallsreichen Genreregisseur mit unverkennbarer Handschrift und einer eigenen Weltsicht. Er variiert und unterläuft die Konventionen so nachdrücklich, dass er auch banalen Stoffen den Zauber poetischer Wahrheitssuche verleihen kann.

Die Triebfeder seiner Filme sind Unruhe und Zweifel, ihr Element ist das Halbdunkel, in dem er die Ambivalenz der menschlichen Natur aufgehoben weiß. In den Nuancen dieses Dämmerlichts lotet er den Widerspruch von Unschuld und Erfahrung, von Lebenswillen und Todessehnsucht aus. Seine Charaktere werden heimgesucht von den Geistern der Vergangenheit und der Welt des Übernatürlichen, von dessen Existenz Tourneur fest überzeugt war. Sie ist einschüchternd, für die Figuren genauso wie für ihren Regisseur. Seine Filme scheinen stets in einem gedämpften, entrückten Tonfall zu sprechen. Das gilt nicht nur für seine berühmten Horrorfilme oder den magristralen, ebenso hartgesottenen wie lyrischen Film noir »Out of the Past«. Seinen Stil hat er auch in den entschlosseneren, tatkräftigeren Hollywoodgenres wie dem Western durchgesetzt. In Filmen wie »Way of a gaucho« und »Great Day in the Morning« inszeniert der gebürtige Franzose dessen große Themen - die Besiedelung, den Widerstreit zwischen Autarkie und Gemeinschaft – mit der Neugierde eines Fremden, der herausfinden will, wie man amerikanische Heimatfilme dreht.

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