Zweierlei Maß

Vor einigen Monaten, im Vorfeld des Kinostarts von Die geliebten Schwestern, wurde ich gebeten, mich einmal unter Kollegen in Frankreich, Italien und anderswo umzuhören, wie bekannt Dominik Graf in ihren Ländern sei. Meinen Bemühungen war ein bemerkenswerter Misserfolg beschieden.

Ein französischer Kritiker, der als Spezialist für das deutsche Kino gilt, war empört, dass ein solch fader téléfilm wie Die geliebten Schwestern überhaupt im Wettbewerb eines A-Festivals wie der Berlinale laufen dürfe. Grafs bisheriges Werk kenne er nicht und habe nicht das geringste Interesse, es kennenzulernen. Ein weiterer fand den Film immerhin "sympathisch", räumte aber ein, außer Der Felsen keinen weiteren Graf-Film zu kennen. Einem dritten sagte der Name gar nichts. Offenbar hilft es dem Renommee eines deutschen Regisseurs in Frankreich wenig, wenn seine Fernseharbeiten regelmäßig auf arte laufen. Zwei italienische Kollegen wiederum konnten in dem Wettbewerbsbeitrag auch nicht mehr als eine Fernsehästhetik erkennen. Dieses Desinteresse (warum nicht gleich: diese Ignoranz?) ist im Falle Grafs umso bedauerlicher, da er selbst ja ein kundiger und eloquenter Liebhaber des französischen und italienischen Kinos ist.

Ich hätte mich besser unter amerikanischen Kollegen umhören sollen. Als Beloved Sisters Ende September beim New York Film Festival lief, machte er Furore. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, es gebe jenseits des Atlantiks lauter Graf-Kenner, die nur auf eine Gelegenheit warteten, sich endlich zu erkennen zu geben. Diese Resonanz mag mit den Ausschlag gegeben haben für die Entscheidung, ihn zur deutschen Einreichung für den Auslands-Oscar zu küren. Da hat er natürlich nur geringe Chancen, da er weder von der Nazi-Zeit noch von der DDR handelt. Aber warten wir's ab.

Die hiesige Rezeption von Grafs Werk wiederum schien mir in den letzten zwei Jahrzehnten immer eine reichlich zwiespältige Angelegenheit zu sein. Ihm ist das Kunststück gelungen, sich einen Ruf als einer der besten Filmregisseure zu verschaffen, der allerdings erstaunlich unabhängig ist von der Güte der Filme, die tatsächlich ins Kino kamen. Dass er sich bei Der rote Kakadu augenscheinlich so gar nicht für den Stoff und die Charaktere interessierte, konnte beispielsweise seinen Ruhm nicht nachhaltig schmälern. Dieser Ruhm ist nicht unbegründet, wenn auch vielfach der Nostalgie geschuldet: Mit Die Katze hat er schließlich einen heroischen Versuch unternommen, das Genrekino in Deutschland wieder heimisch zu machen und eine verloren gegangene Tradition des charismatischen Handwerks neu zu beleben. Auch Die Sieger, dessen kapitaler Misserfolg den Regisseur auf lange Zeit ins Fernsehen verbannte, hat seine trotzigen Bewunderer. Seine TV-Arbeiten feiern regelmäßig auf Festivals wie Berlin und Hof Premiere und werden häufig und reflexhaft als das Großartigste gefeiert, was dem deutschen Kino passieren könnte. Nur passiert es eben nicht dem Kino, sondern bereichert die Fernsehlandschaft. Die geliebten Schwestern gefiel mir ausnehmend gut (ich wundere mich, dass der chronisch nationalstolzen Filmkritik in Frankreich dessen liebevollen Verweise auf Truffauts Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent entgangen sind), aber als den epochalen Wurf, den etliche hiesige Rezensenten in ihm sahen, mag ich ihn nicht veranschlagen.

Allerdings bin ich jedes Mal gespannt, wenn ein neuer TV-Krimi von ihm auf dem Programm steht. Ich hege hohe Erwartungen und sehe sie zuweilen ein wenig enttäuscht. So ging es mir auch am letzten Wochenende, als die öffentlich-rechtlichen Sender ein wahres Graf-Festival veranstalteten. Am Samstagabend lief im Bayerischen Rundfunk sein "Starnberg-Krimi" Die reichen Leichen, am Tag drauf in der ARD "Smoke on the Water", eine neue "Polizeiruf"-Folge aus München. (Beide sind, falls Sie sie verpasst haben sollten, noch einige Tage in der Mediathek der Sender zu sehen und werden zweifellos demnächst auf anderen wiederholt.) Sie zeigen Graf auf der Höhe seiner Kunst (das tun die meisten seiner Krimis), verraten sein Händchen für überraschende Besetzungscoups (er versteht es, neue Gesichter zu etablieren und einen anderen Blick auf vertraute zu werfen), für epigrammatische Dialoge ("Ist es nicht seltsam, dass das Glück nie Spuren hinterlässt?") und kühne dramaturgische Volten (beim "Polizeiruf" scheint der Mord schon nach einer Viertelstunde gelöst, eine halbe Stunde später wird dann aber der wahre Tathergang offenbart; zwischendrin gibt es eine tolle Vorausblende von Szenensplittern). Graf gesteht seinen Figuren ungeahnte Emotionen zu und verleiht auch Nebenfiguren schöne Kontur. Aus der wohlmeinenden Routine des Sonntagskrimis hebt sich das allemal ab; auch wenn Graf auf diesem Feld in Sachen Exzentrik in den letzten Jahren enorme Konkurrenz zugewachsen ist – man denke nur an den hessischen Tatort mit Ulrich Tukur, der in der Vorwoche so großes Aufsehen erregte. Ihm gelingt ein ungeheuer agiler und nonchalanter Zugriff auf das erzählerische Gewebe des Genres und er versteht es, dessen Gewissheiten außer Kraft zu setzen. Besonders der Starnberg-Krimi gefiel mir, weil er am Gestus des Ensemblefilms festhält und einen leichten, nicht nur ironischen Ton anschlägt. "Ist das Sojamilch?" fragt ein Verdächtiger, als ihm ein Polizist einen Kaffee bringt und dieser erwidert gewitzt: "Nein, wir finden Lactose super." Der Polizeiruf erfüllt ziemlich souverän die Konventionen des Paranoia-Thrillers; auf die Funny Games-Replik im Schlussteil indes hätte er gut verzichten können (obwohl die maskierten Polizisten schon mächtig furchterregend sind; zumal, wenn sie in einer Szene in Mannschaftsstärke zu sehen sind) und die Guttenberg-Anspielungen fand ich etwas affig (die Demonstrationen gegen den Politiker sind überdies völlig unplausibel in Szene gesetzt). Beide Filme zeigen auch Grafs besonderes Talent, in repräsentativer Architektur Ablagerungen der Seelenlage seiner Milieus zu entdecken.

Er liebt es, wenn die Autoren – an diesem Wochenende Sathyan Ramesh bzw. sein alter Kumpan Günther Schütte – den Figuren Dialoge schreiben, die immer eine Spur klüger und geistesgegenwärtiger sind, als der Fernsehzuschauer es gewohnt ist. Und ich glaube, das ist nun eine böse Unterstellung, er nimmt dafür gern so manche dramaturgische Unwucht in Kauf. Vielleicht, das ist eine noch bösere Unterstellung, ist es ihm sogar ganz recht, wenn in Kritiken oft an den Drehbüchern herumgemäkelt wird, aber insgesamt die Wucht der Krimis gelobt wird. Mitunter meine ich, in seinen Filmen den Hochmut eines auteurs zu spüren, der sich gern dabei ertappen lässt, wie über sein Material triumphiert. In einer Vorab-Kritik las ich etwas, von dem ich wünschte, es wäre mir selbst eingefallen (ich kann es bei späterer Gelegenheit ja noch stehlen): "In solche Momenten ist der Film mehr damit beschäftigt, sich selbst zu zeigen, als für die Geschichte zu interessieren." Ich vermute, Grafs Ruf hätte nichts Besseres passieren können, als im Fernsehen seine großen Ambitionen erfüllen zu können. Im Reich der Einäugigen ist er König. Seine Krimis werden später einmal zuverlässige Dokumente davon sein, was die Republik zur Zeit ihrer Entstehung umtrieb. Aber die große Frage, die wie ein Damoklesschwert über seinem Werk hängt (jedoch nichts über dessen Güte aussagt), muss ich dennoch stellen: Würden die Bewunderer auch Geld an der Kinokasse dafür ausgeben?

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